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Anfechtungsmöglichkeiten eines gerichtlich geschlossenen Vergleichs

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Ratgeber Prozessrecht: Anfechtungsmöglichkeiten eines gerichtlich geschlossenen Vergleichs

Zivilprozesse werden vielfach im Wege eines zwischen den Parteien im Laufe des Verfahrens geschlossenen Vergleichs beendet. Häufig geschieht dies mit Hilfe des Gerichts. Die Praxis zeigt, dass ein solcher Vergleichsschluss, trotz Beteiligung des Gerichts, durchaus Tücken in sich birgt. Nachfolgend möchte ich einen Überblick verschaffen:

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Überblick über die Arten des gerichtlichen Vergleichsschlusses

Die Zivilprozessordnung sieht für einen mit Hilfe des Gerichts geschlossenen Vergleich zwei Wege vor:

  • Zum einen kann ein Prozessvergleich im Rahmen der mündlichen Verhandlung geschlossen werden. In diesem Fall wird der in der Verhandlung ausgehandelte Vergleich vom Gericht in das Verhandlungsprotokoll aufgenommen und muss dann von den Parteien bzw. deren Vertretern genehmigt werden. Die Genehmigung ist ebenfalls zu protokollieren.
  • Zum anderen kann ein Prozessvergleich auch dadurch geschlossen werden, dass die Parteien dem Gericht einen schriftlichen Vergleichsvorschlag unterbreiten oder einen schriftlichen Vergleichsvorschlag des Gerichts schriftsätzlich gegenüber dem Gericht annehmen. Das Gericht stellt dann das Zustandekommen und den Inhalt des Vergleichs durch Beschluss fest.

Wirkung des Vergleichsabschlusses

Der auf eine der vorgenannten Wege wirksam geschlossene Vergleich führt grundsätzlich zur Beendigung des Rechtsstreits.

Der BGH hat mit Urteil vom 14.7.2015 (Az. VI ZR 326/14; NJW 2015, 2965) zur rechtlichen Natur und Wirkung eines Prozessvergleichs zusammenfassend ausgeführt:

„(…)

Der Prozessvergleich hat eine rechtliche Doppelnatur. Er ist zum einen Prozesshandlung, durch die der Rechtsstreit beendet wird und deren Wirksamkeit sich nach  verfahrensrechtlichen Grundsätzen bestimmt. Dazu ist er ein privates Rechtsgeschäft, für das die Vorschriften des materiellen Rechts gelten und mit dem die Parteien Ansprüche und Verbindlichkeiten regeln (BGHZ 164, 190 [193 f.] = NJW 2005, 3576 mwN; vgl. auch BGHZ 142, 84 [88] = NJW 1999, 2806; BGHZ 79, 71 [74] = NJW 1981, 823; BGHZ 41, 310 [311] = NJW 1964, 1524; BGHZ 28, 171 [172] = NJW 1958, 1970; BGHZ 16, 388 [390] = NJW 1955, 705; OLG Hamm, NJW-RR 2012, 882). Prozesshandlung und privates Rechtsgeschäft stehen nicht getrennt nebeneinander. Vielmehr sind die prozessualen Wirkungen und die materiell-rechtlichen Vereinbarungen voneinander abhängig (BGHZ 164, 190 [194] = NJW 2005, 3576; BGHZ 79, 71 = NJW 1981, 823). Der Prozessvergleich ist nur wirksam, wenn sowohl die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für einen Vergleich als auch die prozessualen Anforderungen erfüllt sind, die an eine wirksame Prozesshandlung zu stellen sind. Fehlt es an einer dieser Voraussetzungen, liegt ein wirksamer Prozessvergleich nicht vor; die prozessbeendigende Wirkung tritt nicht ein (BGHZ 164, 190 = NJW 2005, 3576; vgl. auch BGHZ 16, 388 = NJW 1955, 705). Das gilt auch für den Prozessvergleich iSd § 278 VI ZPO (vgl. BT-Drs. 14/4722, 82; BAGE 120, 251 = NJW 2007, 1831 Rn. 15; OLG Hamm, NJW-RR 2012, 882; Assmann in Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl., § 278 Rn. 79; Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, 36. Aufl., § 794 Rn. 2 f.).

(…)“

Streit über Wirksamkeit des Vergleiches

In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass eine Partei die Wirksamkeit des geschlossenen Vergleichs anzuzweifeln versucht.

Ausgangspunkt ist (siehe vorzitiertes BGH-Urteil) hier, dass der Prozessvergleich doppelter Natur ist mit der Folge, dass sich Unwirksamkeitsgründe auf zwei Ebenen ergeben können.  Es sind mithin zwei Arten von denkbaren Mängeln zu unterscheiden:

Ebene 1: Prozessuale Mängel

So ist der Prozessvergleich zum einen ein Prozessvertrag und könnte an prozessualen Mängeln leiden.

Der häufigste Mangel auf dieser Ebene liegt in einer fehlerhaften Protokollierung des Vergleichsinhalts.

Ebene 2: Materielle Mängel

Der Prozessvergleich ist zudem ein „normaler“ materiell-rechtlicher Vertrag zwischen den Parteien, mit dem diese ihre Streitigkeit beenden bzw. regeln wollen.

Auch dieser Vertrag kann an Mängeln leiden, z.B. dergestalt, dass sich eine der Parteien bei Abgabe ihrer den Vergleich ermöglichenden Erklärungen in einem Irrtum befand. Dies würde es ihr unter Umständen ermöglichen, den Vergleich nach §119 BGB wegen Irrtums anzufechten. Auch in Betracht kommt der gesetzlich ausdrückliche geregelte Fall des § 779 BGB (Irrtum über die Vergleichsgrundlage). Ein Anpassungsrecht kann sich ferner auch unter dem Gesichtspunkt der Störung der Geschäftsgrundlage ergeben (§ 313 BGB)

Prozessuale Folgen einer Vergleichsanfechtung

Macht eine Partei Mängel des Vergleichs gegenüber dem Gericht geltend, führt dies zur Fortsetzung des Verfahrens und zur Prüfung der geltend gemachten Mängel durch das Gericht.

Danach ist zu unterscheiden:

  • Wenn das Gericht prozessuale Mängel bejaht, bedeutet dies, dass der Prozessvergleich unwirksam ist. Der Rechtsstreit ist weiter rechtshängig. Eine besondere Situation liegt dann in Fällen, in denen die Parteien zunächst eine materiell wirksame Einigung getroffen hatten und diese Einigung im Anschluss fehlerhaft protokolliert worden ist. Denn die lediglich fehlerhafte Protokollierung beseitigt nicht die zuvor materiell wirksam erfolgte Einigung.

    Und auch in sonstigen Fällen eines aus prozessualen Gründen unwirksamen Prozessvergleichs kann es wegen widersprüchlichen Verhaltens gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstoßen, wenn eine Partei sich auf den prozessualen Mangel beruft. Dies hat der BGH im bereits oben zitierten Urteil wie folgt angenommen:

    (…)
    Die Kl. kann sich jedoch nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht darauf berufen, dass der vom BerGer. nach § 278 VI 2 ZPO festgestellte Vergleich prozessual nicht wirksam zu Stande gekommen ist.

    Der Grundsatz von Treu und Glauben findet auch im Prozessrecht Anwendung (…).
    Widersprüchliches Verhalten einer Partei (venire contra factum proprium) im Prozess kann rechtsmissbräuchlich und damit unzulässig sein (…).

    Rechtsmissbräuchlich ist widersprüchliches Verhalten dann, wenn für den anderen Teil ein Vertrauenstatbestand entstanden ist oder besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen (…). Nach ständiger Rechtsprechung des BGH kann eine Rechtsausübung etwa dann unzulässig sein, wenn sich objektiv das Gesamtbild eines widersprüchlichen Verhaltens ergibt, weil das frühere Verhalten mit dem späteren sachlich unvereinbar ist und die Interessen der Gegenpartei im Hinblick darauf vorrangig schutzwürdig erscheinen (…).

  • Wenn das Gericht materielle Mängel feststellt, die eine Nichtigkeit des Vergleichs (d.h. anfängliche Unwirksamkeit) zur Folge haben, so ist die Situation so, als hätte es den Vergleich nie gegeben.

    Das Verfahren läuft normal weiter, weil der Rechtsstreit tatsächlich nie beendet worden ist.

  • In Fällen, in denen der Vergleich zunächst wirksam war und erst durch später eintretende Umstände, z.B. wegen einer Störung der Geschäftsgrundlage, ex nunc in Frage steht bzw. unwirksam geworden ist, ist die Situation komplexer, weil der Vergleich ja zunächst vergleichsbeendigende Wirkung hatte.

    Zutreffenderweise ist dann ein neuer Prozess zu führen, da ein Wideraufleben des alten, zwischenzeitlich wirksam beendeten Prozesses, keine rechtliche Grundlage hat. Kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass es an Mängeln fehlt, stellt es die prozessbeendigende Wirkung des Vergleichs durch berufungsfähiges Urteil fest.

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Wer glaubt, dass durch die Beteiligung des Gerichts ein „saubere“ Vergleichsschluss sichergestellt ist, unterliegt einem Trugschluss!

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Es ist nicht selten, dass Gerichte bis zum ersten Verhandlungstermin – bis dahin können im schlimmsten Fall Jahre vergehen – schlichtweg schweigen. Die Parteien wissen so über lange Zeit nicht, wo sie stehen und erwarten mit großer Spannung den Verhandlungstermin, von dem sie sich endlich Erkenntnisse zur Sichtweise des Gerichts erhoffen. Erst während des Gerichtstermins erteilen Richter dann oft sog. gerichtliche Hinweise nach § 139 Abs. 2 u. 3 ZPO. Dieses Vorgehen ist rechtswidrig!

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Zur Befangenheit von Richtern im Zivilprozess: Wenn Richter Schriftsätze einer Partei nicht lesen, kann dies einen Befangenheitsantrag rechtfertigen!

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Befangenheit von Richtern im Zivilprozess: Wenn Richter Schriftsätze einer Partei nicht lesen

Im Anschluss an meinen Überblicks-Beitrag zum Befangenheitsantrag nach § 42 ZPO möchte ich über ein interessantes Urteil des OLG Karlsruhe berichten. Demnach kann es die Besorgnis der Befangenheit begründen, wenn ein Richter die von einer Partei eingereichten Schriftsätze nicht liest. Im betreffenden Fall hatte ein Richter einen gegen ihn gerichteten Befangenheitsantrag übersehen, da er den diesen enthaltenen Schriftsatz ungelesen an die Gegenpartei zur Stellungnahme weitergeleitet hatte. Dies verstößt gegen die sog. Wartepflicht nach § 47 Abs. 1 ZPO, wonach ab Stellung eines Befangenheitsantrags bis zu dessen Erledigung nur „unaufschiebbare Amtshandlungen“ zulässig sind

Das OLG Karlsruhe hat in seinem Beschluss vom 11.05.2022  (Az. 9 W 24/22) zu Recht geurteilt, dass ein Richter Schriftsätze lesen muss! Das OLG Karlsruhe hat in seinem Beschluss vom 11.05.2022 (Az. 9 W 24/22) sehr lehrreich zu den Kriterien, nach denen die Frage der Befangenheit zu beurteilen ist, ausgeführt:


Das OLG Karlsruhe hat in seinem Beschluss vom 11.05.2022 (Az. 9 W 24/22) zu Recht geurteilt, dass ein Richter Schriftsätze lesen muss! Das OLG Karlsruhe hat in seinem Beschluss vom 11.05.2022 (Az. 9 W 24/22) sehr lehrreich zu den Kriterien, nach denen die Frage der Befangenheit zu beurteilen ist, ausgeführt:

„(…) Es liegen Umstände vor, die geeignet sind, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des abgelehnten Richters am Landgericht … zu rechtfertigen.

1. Maßgeblich ist, ob aus der Sicht einer Partei bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass gegeben ist, an der Unvoreingenommenheit und an einer objektiven Einstellung des Richters zu zweifeln. Dabei kommen nur objektive Gründe in Betracht, wobei diese jedoch aus der Perspektive der Partei zu betrachten sind. Maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalles, die in ihrer Gesamtheit zu würdigen sind. (Vgl. Zöller/Vollkommer, Zivilprozessordnung, 34. Auflage 2022, § 42 ZPO Rn. 9 ff. mit Rechtsprechungsnachweisen.)

2. Eine Besorgnis der Befangenheit ergibt sich aus dem Verstoß des abgelehnten Richters gegen die Wartepflicht gemäß § 47 Abs. 1 ZPO. Nach den Ablehnungsanträgen der Beklagten war der abgelehnte Richter zu den Verfügungen vom 22.11.2021 (I, 208) und vom 03.12.2021 (I, 319) nicht berechtigt. Die Verstöße lassen aus der maßgeblichen Perspektive der Beklagten einen Schluss zu auf eine evident fehlende Sorgfalt des Richters bei der Wahrnehmung und Berücksichtigung des Vorbringens der Beklagten (vgl. zu diesem Gesichtspunkt Zöller/Vollkommer, a. a. O., § 42 ZPO Rn. 24 mit Rechtsprechungsnachweisen). Aus der Perspektive der Beklagten ergibt sich aus den Verstößen die Befürchtung, dass der abgelehnte Richter auch bei einer späteren Sachentscheidung das Vorbringen der Beklagten möglicherweise nicht in angemessener Weise ernst nehmen würde.

a) Die Verstöße des abgelehnten Richters sind schwerwiegend. Die Wartepflicht gemäß § 47 Abs. 1 ZPO hat nicht nur einen formalen Charakter; sie ist vielmehr Ausdruck des für den Zivilprozess wesentlichen Prinzips des gesetzlichen Richters. Unaufschiebbare Amtshandlungen sind bei den Verfügungen vom 22.11.2021 und vom 03.12.2021 nicht ersichtlich und vom abgelehnten Richter auch nicht geltend gemacht. Die Ablehnungsanträge waren, soweit prozessuale Fehler des Richters in der Zeit vor der Klageerwiderung gerügt wurden, auch aus der Perspektive des abgelehnten Richters zulässig und nicht rechtsmissbräuchlich. Die Verfügungen vom 22.11.2021 und vom 03.12.2021 beruhten daher nicht auf einer zwar unzutreffenden, aber vertretbaren, Rechtsauffassung des Richters (vgl. zu einem solchen Verfahrensverstoß von geringerem Gewicht BGH, Beschluss vom 07.03.2012 – AnwZ (B) 13/10 -, zitiert nach Juris).

b) Das zweifache Übersehen der Befangenheitsanträge durch den abgelehnten Richter ist bei einer üblichen Bearbeitung nicht nachvollziehbar. (…)

Der Hinweis des abgelehnten Richters, er habe sich bei der Klageerwiderung lediglich das Inhaltsverzeichnis angeschaut, ändert nichts. Denn dies entspricht, unabhängig von der Länge des Schriftsatzes, nicht den berechtigten Erwartungen einer Partei. Die Regelung in § 139 Abs. 1 Satz 3 ZPO geht vielmehr – unabhängig von der Arbeitsbelastung des Richters – davon aus, dass der Richter ständig beim Eingang von Schriftsätzen eine geeignete Prozessförderung im Auge behält (vgl. dazu Zöller/Greger, a. a. O., § 139 ZPO Rn. 4 c mit Nachweisen). Dies setzt eine zeitnahe Kenntnisnahme vom Inhalt des jeweiligen Schriftsatzes voraus.

Der Hinweis des Richters auf das Inhaltsverzeichnis der Klageerwiderung reicht zudem nicht aus, um den (ersten) Verstoß gegen die Wartepflicht in der Verfügung vom 22.11.2021 zu erklären. Aus dem Inhaltsverzeichnis ergibt sich, dass die Ausführungen in der Klageerwiderung „zur Sache“ erst auf Seite 7 beginnen, so dass für den Richter zu Beginn des Schriftsatzes (vor den Ausführungen zur Sache) mit anderen prozessualen Ausführungen zu rechnen war, die aus der Perspektive des Prozessbevollmächtigten der Beklagten möglicherweise eine vorrangige Bedeutung haben sollten. Auch das Inhaltsverzeichnis hat der abgelehnte Richter zudem allenfalls unvollständig zur Kenntnis genommen; denn eine Zustellung der Klageerwiderung an die Streitverkündete (vgl. I Ziffer 1 d) kk) des Inhaltsverzeichnisses) ist zu keinem Zeitpunkt erfolgt.

Die Beklagte weist im Zusammenhang mit dem Befangenheitsantrag zu Recht darauf hin, dass Richterin am Landgericht … als Vertreterin des abgelehnten Richters durch die Verfügungen vom 10.01.2022 (I, 328) und vom 08.02.2022 (I, 342) das Verfahren in der Hauptsache gefördert hat, obwohl sie hierzu gemäß § 47 Abs. 1 ZPO nicht befugt war. Wenn es sich um eine unaufschiebbare Handlung gehandelt hätte, wäre nur der abgelehnte Richter, Richter am Landgericht …, selbst für diese Maßnahmen entscheidungsbefugt gewesen. Aus der Perspektive der Beklagten stellt sich die Frage, ob der abgelehnte Richter – im Zusammenhang mit den eigenen Verstößen gegen § 47 Abs. 1 ZPO – der unzutreffenden Auffassung war, nach dem Ablehnungsantrag könne die Richterin am Landgericht … als seine Vertreterin bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Befangenheitsantrag das Verfahren in der Hauptsache durch geeignete Maßnahmen fördern.

c) Ein „offenkundiges Versehen“ steht der Ablehnung des Richters nicht entgegen.

a) Zwar ist nach der dienstlichen Stellungnahme des abgelehnten Richters vom 12.01.2022 davon auszugehen, dass die Verstöße gegen § 47 Abs. 1 ZPO auf einem Versehen (zweifaches Übersehen der Ablehnungsanträge) beruhten. Es bestehen jedoch gewisse Zweifel, ob dieses Versehen aus der maßgeblichen Perspektive der Beklagten offenkundig war (vgl. zu einem offenkundigen Versehen bei einem Verstoß gegen § 47 Abs. 1 ZPO beispielsweise OLG Brandenburg, NJW-RR 2000, 1091), oder ob aus der Perspektive der Beklagten mit der Möglichkeit zu rechnen war, dass der abgelehnte Richter seine Wartepflicht nicht ernst nahm. Diese Frage kann für die Entscheidung des Senats jedoch dahinstehen.

b) Auch wenn man von einem offenkundigen Versehen des abgelehnten Richters ausgehen sollte, bestehen aus der Perspektive der Beklagten vernünftige Zweifel an der Unparteilichkeit des Richters. Denn das Versehen ist nur durch evident mangelnde Sorgfalt des Richters erklärbar (siehe im Einzelnen oben). Das bedeutet: Die Fehler des abgelehnten Richters rechtfertigen aus der Perspektive der Beklagten die Befürchtung, dass der abgelehnte Richter auch bei der weiteren Verfahrensführung, insbesondere bei einer späteren Entscheidung in der Sache, Vorbringen und Standpunkte der Beklagten nicht ausreichend berücksichtigen und ernst nehmen könnte.“

 

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Fazit

Die Ausführungen zeigen einmal mehr, dass  die Besorgnis der Befangenheit eines Richters aus der Perspektive der betroffenen Partei zu beurteilen ist, die nicht wissen kann, was im zuständigen Richter wirklich vorgeht. Vorliegend hatte die betroffene Partei zu Recht das zweifache „Übersehen“ eines Antrags als grob nachlässig empfunden. In einem solchem Fall spielt es dann keine Rolle mehr, ob der Richter „aus Versehen“ nachlässig war.

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BGH zu den Rechtsfolgen einer Beweisvereitelung

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Ratgeber Prozessrecht: Wichtige Klarstellung des BGH zu den möglichen Rechtsfolgen einer Beweisvereitelung

In Rechtstreitigkeiten kommt es immer wieder vor, dass eine Partei die Beweisführung des Gegners durch eine Beweisvereitelung erschwert. In diesen Fällen kommt dann die praxisrelevante Frage auf, ob und gegebenenfalls mit welchen Rechtsfolgen von einer Beweisvereitelung auszugehen ist.

Das klarstellende BGH-Urteil vom 16.11.2021 (Az. VI ZR 100/20) zu den Rechtsfolgen einer Beweisvereitelung

Der BGH hat dazu in einem jüngeren Urteil wichtige Feststellungen getroffen und dabei insbesondere einen vielfach anzutreffendes Fehlverständnis beseitigt, wonach im Falle einer Beweisvereitelung der Beweis als geführt anzusehen sei. Der BGH hat in seinem Urteil vom 16.11.2021 (Az. VI ZR 100/20) ausgeführt:

„(…)

Entgegen der Auffassung der Revision ist dem Kläger der Beweis seiner diesbezüglichen Behauptungen allerdings nicht deshalb abgeschnitten, weil ihm wegen der Veräußerung seines Fahrzeugs im September 2017 eine Beweisvereitelung vorzuwerfen wäre. Von einer Beweisvereitelung kann nur gesprochen werden, wenn die nicht beweisbelastete Partei dem beweisbelasteten Gegner die Beweisführung schuldhaft unmöglich macht oder erschwert, indem sie vorhandene Beweismittel vernichtet, vorenthält oder ihre Benutzung erschwert (BGH, Urteile vom 25. Juni 1997 – VIII ZR 300/96, NJW 1997, 3311, juris Rn. 18; vom 11. Juni 2015 – I ZR 226/13, WRP 2016, 35 Rn. 44 – Deltamethrin I mwN). Durch die Veräußerung seines Fahrzeugs hat der Kläger jedoch nicht die Beweisführung der Beklagten, sondern allenfalls die eigene erschwert. Denn er ist für die vollständige und fachgerechte Reparatur seines Fahrzeugs entsprechend den Vorgaben des vorgerichtlichen Gutachters beweispflichtig.

Abgesehen davon führt die Annahme einer Beweisvereitelung nicht zu der von der Revision für sich in Anspruch genommenen Rechtsfolge. Liegen die Voraussetzungen einer Beweisvereitelung durch den Gegner der beweisbelasteten Partei vor, können zugunsten der beweisbelasteten Partei Beweiserleichterungen in Betracht kommen, die unter Umständen bis zur Umkehr der Beweislast gehen können. Die Beweisvereitelung führt dagegen nicht dazu, dass eine Beweiserhebung gänzlich unterbleiben könnte und der Vortrag der beweisbelasteten Partei als bewiesen anzusehen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 11. Juni 2015 – I ZR 226/13, aaO Rn. 48 f. – Deltamethrin I mwN).

(…).

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Bewertung

 

Dieses Urteils zu den möglichen Rechtsfolgen einer Beweisvereitelung beinhaltet nach allem die folgenden, wichtigen Erkenntnisse für die Prozessführung:

  • Beweisvereitelung meint allein den Fall, dass die nicht beweisbelastete Partei der belasteten Gegenpartei die Beweisführung unmöglich macht oder erschwert.
  • Gegebenenfalls kommen als Rechtsfolge zugunsten der beweisbelasteten Partei Beweiserleichterungen und unter Umständen eine Umkehr der Beweislast in Betracht.
  • Nicht zu den möglichen Rechtsfolgen einer Beweisvereitelung gehört, dass der Beweis als geführt anzusehen ist mit der Folge, dass die streitige Tatsache als bewiesen anzusehen wäre.
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Ratgeber Prozessrecht: Erleichterter Weg zu Schadensersatz wegen Abgasmanipulationen – Zum BGH-Urteil vom 26. Juni 2023 (Az. Via ZR 335/21)

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Ratgeber Prozessrecht: Erleichterter Weg zu Schadensersatz wegen Abgasmanipulationen – Zum BGH-Urteil vom 26. Juni 2023 (Az. Via ZR 335/21)

Dieser Beitrag versucht eine Einordnung und Bewertung des aktuellen Urteils des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 26. Juni 2023 (Az. Via ZR 335/21) zum Thema Schadensersatz wegen Abgasmanipulationen bei Autoherstellern.

Der Beitrag beleuchtet zunächst kurz den ins Jahr 2015 zurückgehenden Hintergrund des Dieselskandals sowie auch das erste Grundsatzurteil des BGH aus dem Jahr 2020, um sich sodann mit den Auswirkungen des aktuellen EuGH-Urteils vom 21. März 2023 (Az. C-100/21) zu befassen, das die Grundlagen für die geänderte, nachfolgend analysierte BGH-Rechtsprechung gelegt hat.

Rückblick ins Jahr 2015

Der Skandal um Abgasmanipulationen von Autoherstellern geht bis in das Jahr 2015 zurück.

Damals stellte sich heraus, dass VW eine spezielle Software in die Motorsteuerung eingebaut hatte, um auf dem Prüfstand bei Emissionstests niedrigere Stickoxidwerte zu erzeugen. Im normalen Fahrbetrieb waren die Abgasreinigungssysteme jedoch deaktiviert, um die Motorleistung und den Kraftstoffverbrauch zu verbessern. Dies führte dazu, dass die Fahrzeuge die gesetzlichen Emissionsgrenzwerte im realen Straßenverkehr nicht einhielten.

 

Später kam heraus, dass VW nicht der einzige Hersteller war, der sich auf vorbeschriebene (oder ähnliche) Weise die vermeintliche Einhaltung der gesetzlichen Emissionsgrenzen „erschummelt“ hatten.

Folge hiervon waren Klagewellen von betroffenen Autokäufern. Die Klagen waren gerichtet auf Schadensersatz, Kaufpreisminderung und Rückabwicklung von Verträgen.

Zum ersten Grundsatzurteil des BGH aus dem Jahr 2020

In seinem ersten Diesel-Urteil vom 25.5.2020 (Az. VI ZR 252/19) hatte der BGH entschieden und insoweit die Vorinstanz bestätigt, dass das durch die Abgasmanipulation erfolgte Erschleichen von Typengenehmigungen auch eine unmittelbare Täuschung der Autokäufer bedeuten und gegebenenfalls eine Recht der Käufer auf Schadensersatz, unter Umständen auch Rückabwicklung, in Betracht kommen kann.

Die Leitsätze des Urteils lauteten:

a) Es steht wertungsmäßig einer unmittelbaren arglistigen Täuschung der Fahrzeugkäufer gleich, wenn ein Fahrzeughersteller im Rahmen einer von ihm bei der Motorenentwicklung getroffenen strategischen Entscheidung, die Typgenehmigungen der Fahrzeuge durch arglistige Täuschung des Kraftfahrt-Bundesamts zu erschleichen und die derart bemakelten Fahrzeuge alsdann in Verkehr zu bringen, die Arglosigkeit und das Vertrauen der Fahrzeugkäufer gezielt ausnutzt.

b) Bestehen hinreichende Anhaltspunkte für die Kenntnis zumindest eines vormaligen Mitglieds des Vorstands von der getroffenen strategischen Entscheidung, trägt der beklagte Hersteller die sekundäre Darlegungslast für die Behauptung, eine solche Kenntnis habe nicht vorgelegen. Darauf, ob die vormaligen Mitglieder des Vorstands von dem Kläger als Zeugen benannt werden könnten, kommt es nicht an.

c) Wird jemand durch ein haftungsbegründendes Verhalten zum Abschluss eines Vertrages gebracht, den er sonst nicht geschlossen hätte, kann er auch bei objektiver Werthaltigkeit von Leistung und Gegenleistung dadurch einen Vermögensschaden erleiden, dass die Leistung für seine Zwecke nicht voll brauchbar ist. Die Bejahung eines Vermögensschadens unter diesem Aspekt setzt allerdings voraus, dass die durch den unerwünschten Vertrag erlangte Leistung nicht nur aus rein subjektiv willkürlicher Sicht als Schaden angesehen wird, sondern dass auch die Verkehrsanschauung bei Berücksichtigung der obwaltenden Umstände den Vertragsschluss als unvernünftig, den konkreten Vermögensinteressen nicht angemessen und damit als nachteilig ansieht.

d) Die Grundsätze der Vorteilsausgleichung gelten auch für einen Anspruch aus vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gemäß § 826 BGB.

 

Dieses zunächst positiv klingende Urteil bedeutete für betroffene Autokäufer nicht unwesentliche Hürden auf dem Weg zu einem möglichen Schadensersatz, insbesondere:

  • Ein Anspruch sollte gemäß dem damaligen Urteil Vorsatz voraussetzen. Wenn auch mit vom BGH aufgestellten Beweiserleichterungen, mussten die Betroffenen den Unternehmensleitern – ggf. auch eine über Mitarbeiter „vermittelte“ – Kenntnis nachweisen.
  • Schwierigkeiten bereitete den betroffenen Käufern nicht zuletzt der erforderliche Schadensnachweis. So forderte der BGH (siehe obigen Leitsatz 3), dass „die durch den unerwünschten Vertrag erlangte Leistung nicht nur aus rein subjektiv willkürlicher Sicht als Schaden angesehen wird, sondern dass auch die Verkehrsanschauung (…) den Vertragsschluss als (…) nachteilig ansieht.“

Die „Vorgeschichte“ der neuen BGH-Rechtsprechung: Das EuGH-Urteil vom 21.3.2023 (Az. C-100/21)

Für das Verständnis der zugunsten der Verbraucher geänderten Rechtsprechung des BGH ist das übergeordnete Europarecht und damit die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) von wesentlicher Bedeutung.

Der EUGH hat in einem ebenfalls noch sehr jungen Urteil vom 21.3.2023 (Az. C-100/21) die Grundlagen für die jetzt geltende BGH-Rechtsprechung gelegt, indem er – entgegen der bisherigen BGH-Rechtsprechung – dem europäischen Typengenehmigungsrecht einen Individualschutz der Verbraucher zugesprochen hat. In Randnummer 85 des EuGH-Urteils heißt es dementsprechend,

„(…) dass Art. 18 I, Art. 26 I und Art. 46 der Rahmenrichtlinie iVm Art. 5 II VO (EG) 715/2007 dahin auszulegen sind, dass sie neben allgemeinen Rechtsgütern die Einzelinteressen des individuellen Käufers eines Kraftfahrzeugs gegenüber dessen Hersteller schützen, wenn dieses Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung iSv Art. 5 II dieser Verordnung ausgestattet ist.“

Damit nicht genug, leitet der EUGH aus dem europäischen Recht gar einen Schadensersatzanspruch zugunsten des Autokäufers ab, wenn dem Käufer durch die Abschalteinrichtung ein Schaden entstanden ist. In Randnummer 91 des EUGH-Urteils heißt es dazu,

„(…) dass sich aus Art. 18 I, Art. 26 I und Art. 46 der Rahmenrichtlinie iVm Art. 5 II VO Nr. 715/2007 ergibt, dass die Mitgliedstaaten vorsehen müssen, dass der Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung iSv Art. 5 II dieser Verordnung ausgestatteten Fahrzeugs einen Anspruch auf Schadensersatz durch den Hersteller dieses Fahrzeugs hat, wenn dem Käufer durch diese Abschalteinrichtung ein Schaden entstanden ist (…)“

Der EUGH geht noch weiter und ermahnt die Mitgliedstaaten, dafür Sorge zu tragen, dass die Verbraucher auch tatsächlich in den Genuss dieses „europäischen Schadensersatzanspruchs“   kommen. Hierzu gehört es laut EuGH, dass die Hürden auf den Weg zu einem solchen Schadenersatz für den Verbraucher nicht zu hoch gehängt werden dürfen. Im EUGH-Urteil heißt es dazu unter den Randnummern 92 und 93:

„92In Ermangelung unionsrechtlicher Vorschriften über die Modalitäten für die Erlangung eines solchen Ersatzes durch die betreffenden Käufer wegen des Erwerbs eines solchen Fahrzeugs ist es Sache jedes einzelnen Mitgliedstaats, diese Modalitäten festzulegen.

93Allerdings stünden nationale Rechtsvorschriften, die es dem Käufer eines Kraftfahrzeugs praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, einen angemessenen Ersatz des Schadens zu erhalten, der ihm durch den Verstoß des Herstellers dieses Fahrzeugs gegen das in Art. 5 II VO Nr. 715/2007 enthaltene Verbot entstanden ist, nicht mit dem Grundsatz der Effektivität in Einklang.“

Kurz gesagt folgt aus dem vorzitierten EUGH-Urteil die verpflichtende Anweisung an die Mitgliedstaaten, dass diese gefälligst dafür zu sorgen haben, dass ein Schadensersatzanspruch von Verbrauchern wegen Abgasmanipulationen, die gegen das europäische Typengenehmigungsrecht verstoßen, nicht bloße Theorie bleiben.

Zum neuen Diesel-Urteil des BGH vom 26. Juni 2023 (Az. Via ZR 335/21)

Das nun ergangene Urteil des BGH vom 26. Juni 2023 (Az. Via ZR 335/21) will die vorbeschriebenen Vorgaben des EUGH umsetzen.

Im Ergebnis hat der BGH die Hürden für Schadensersatzklagen von Diesel-Käufern in Deutschland deutlich gesenkt, wobei (siehe dazu meinen Ausblick am Ende dieses Beitrags) es fraglich erscheint, ob der BGH den Verbrauchern damit weit genug entgegengekommen ist.

Gemäß der geänderten BGH-Rechtsprechung können Fahrzeughersteller künftig auch dann zum Schadensersatz verpflichtet sein, wenn sie „nur“ fahrlässig gehandelt haben.

Zudem hat der BGH die weitere Vorgabe des EUGH, wonach den Autokäufern auch ein effektiver Weg zu Schadenersatz offenstehen muss, dadurch umgesetzt, dass er betroffenen Verbrauchern grundsätzlich und ohne Notwendigkeit eines Sachverständigengutachtens Schadensersatz in einer Spanne von bei 5 bis 15 % des Kaufpreises zubilligt.

Im Einzelnen:

EG-Typengenehmigung kann Schadensersatzanspruch nicht ausschließen

In seinem Urteil stellt der BGH zunächst erneut klar, dass weder eine erteilte EG-Typengenehmigung noch eine hinzutretende Übereinstimmungsbescheinigung geeignet sein können, einen deliktischen Anspruch des Autokäufers von vornherein auszuschließen.

Entscheidend sei, dass EG-Typengenehmigungen sowie auch ggf. hinzutretende Übereinstimmungsbescheinigungen nur Wirkung bezüglich eines bestimmten Fahrzeugtyps hätten, für einen deliktsrechtlichen Anspruch aber die Betroffenheit des konkret erworben Fahrzeugs entscheidend sei.

Rückabwicklung („Großer“ Schadensersatz) nach wie vor nur bei vorsätzlicher, sittenwidriger Schädigung

Unverändert hält der BGH daran fest, dass „großer“ Schadensersatz nur im Falle einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung verlangt werden kann. Ein Käufer könne im Falle der Enttäuschung seines auf die Richtigkeit der Übereinstimmungsbescheinigung gestützten Vertrauens nicht verlangen, dass der Fahrzeughersteller das Fahrzeug zurücknimmt und den Kaufpreis abzüglich erlangter Vorteile erstattet.

Zwar schütze das europäische Abgasrecht auch den einzelnen Autokäufer gegenüber dem Hersteller, wenn das gekaufte Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, aber, so der BGH wörtlich (vgl. Rn. 22 des Urteils):

„Das Unionsrecht verlangt, was aufgrund des Urteils des Gerichtshofs vom 21. März 2023 geklärt ist, gleichwohl nicht, den Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Kraftfahrzeugs so zu stellen, als habe er den Kaufvertrag nicht abgeschlossen, also das Interesse auf Rückabwicklung des Kaufvertrags in den sachlichen Schutzbereich der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV einzubeziehen.“

Der BGH begründet dies weiterhin u.a. mit dem beschränkten Unrechtsgehalt einer „nur“ schuldhaften Schutzgesetzverletzung im Verhältnis zu einer sittenwidrigen, vorsätzlichen Schädigung.

Der BGH sieht im Unionsrecht und der Rechtsprechung des EUGH keine Vorgabe dahingehend, dass das nationale Recht einen Anspruch auf Rückabwicklung vorsehen müsse. Er bezieht sich dabei darauf, dass der EUGH lediglich Sanktionen fordere, die wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssten. Er nimmt dabei auch auf ein Urteil des Obersten Gerichtshofs der Republik Österreich vom 25. April 2023 Bezug, der – für Österreich – einen Anspruch auf großen Schadensersatz bejaht hatte. Der BGH sieht diese Rechtsprechung in Modalitäten des nationalen, österreichischen Rechts begründet. Dem Urteil des Obersten Gerichtshofs entnimmt er dann auch, dass dieser selbst davon ausgehe, dass das Unionsrecht die Gewährung eines großen Schadensersatzes nicht fordere.

Anspruch auf Ersatz des sog. Differenzschadens wegen fahrlässiger Verletzung des EU-Abgasrechts

Der BGH räumt sodann ein, dass eine fahrlässige Verletzung des EU-Abgasrechts – in Form einer unzulässigen Abschalteinrichtung – einen Anspruch des Autokäufers auf Ersatz des sog. Differenzschadens begründen kann. 

Insoweit habe der EUGH vorgegeben, dass die sog. Übereinstimmungserklärung nach Artikel 26 Abs. 1 der Richtlinie 2007/46EG einen individuellen Schutz des Fahrzeugkäufers, der auch darauf gerichtet sei, dass das erworbene Fahrzeug alle relevante Rechtsakte einhalte. Aus der Übereinstimmungserklärung leite sich gemäß EuGH insbesondere das Recht ab, das Fahrzeug ohne weitere technische Unterlagen in jedem Mitgliedstaat zulassen zu können.

Aus dieser Begründung wiederum folge nach der Rechtsprechung des EuGH eine Verknüpfung der Übereinstimmungserklärung mit der individuellen Kaufentscheidung des Verbrauchers. Dies wiederum korrespondiere mit dem vom BGH aufgestellten Erfahrungssatz, dass

„ein Käufer, der ein Fahrzeug zur eigenen Nutzung erwirbt, in Kenntnis der Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung von dem Erwerb des Fahrzeugs abgesehen hätte

(vgl. Rn. 30 des Urteils).

Als Ergebnis hat der BGH festgehalten (vgl. Rn. 32 des Urteils):

„Das demnach unionsrechtlich geschützte Interesse, durch den Abschluss eines Kaufvertrags über ein Kraftfahrzeug nicht wegen eines Verstoßes des Fahrzeugherstellers gegen das europäische Abgasrecht eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, ist von § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nach der gebotenen unions- rechtlichen Lesart geschützt. (…)“

Erforderlichkeit eines Verschuldens des Autoherstellers

Unverändert fordert der BGH ein Verschulden des Autoherstellers.

Der BGH räumt dabei ein, dass sich der EuGH zwar mit einem Verschuldenserfordernis nicht auseinandergesetzt habe. Der EuGH habe aber – was mir fraglich erscheint (!) – aus dem Unionsrecht einen Schadensersatzanspruch wegen unzulässiger Abschalteinrichtung nicht unmittelbar abgleitet, sondern einen solchen, von den Mitgliedstaaten näher auszugestalten Anspruch lediglich gefordert. Unter Verweis auf nationales Recht der Bundesrepublik Deutschland hält der BGH am Verschuldenserfordernis fest und hat dazu ausgeführt (vgl. Rn. 37 des Urteils):

§ 823 Abs. 2 Satz 2 BGB erlaubt nach seinem Wortlaut eine von einem Verschulden des Schädigers unabhängige Ersatzpflicht nicht. Vielmehr tritt nach § 823 Abs. 2 Satz 2 BGB, sofern nach dem Inhalt des Schutzgesetzes ein Ver- stoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich ist, die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein. Auch unter Ausschöpfung der Grenzen zulässiger Gesetzesauslegung kommt demnach die Ableitung einer verschuldensunabhängigen Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB nicht in Frage. Nichts anderes gilt mit Rücksicht auf die Möglichkeit einer unionsrechtskonformen Auslegung. Denn nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs findet eine solche Auslegung des nationalen Rechts ihre Grenze in einem im Gesetz zum Ausdruck kommenden Willen des nationalen Gesetzgebers (EuGH, Urteil vom 22. Januar 2019 – C-193/17, NZA 2019, 297 Rn. 74 mwN).“

Soweit der betroffene Autokäufer das Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung nachgewiesen hat, steht dem Fahrzeughersteller damit nach wie vor die Möglichkeit offen, darzulegen und zu beweisen, dass er weder vorsätzlich gehandelt noch fahrlässig verkannt hat, dass das Kraftfahrzeug den unionsrechtlichen Vorgaben nicht entspricht. Gelingt dem Fahrzeughersteller das, haftet er auch in Zukunft nicht! Denn deutsche Recht der unerlaubten Handlung setzt für eine deliktische Haftung des Schädigers stets ein Verschulden voraus. Denn die deutschen Gerichte können – so der BGH – eine verschuldensunabhängige deliktische Haftung, die auch nach den Vorgaben des EuGH im Rahmen des geltenden nationalen Rechts zu entscheiden haben, nicht anordnen.

Erforderlichkeit einer Vermögensminderung – Differenzschaden stets anzunehmen

Für Fahrlässigkeitssachverhalte hält der BGH weiter an dem allgemeinen Grundsatz fest, dass ein Schadensersatzanspruch eine Vermögensminderung durch die enttäuschte Vertrauensinvestition bei Abschluss des Kaufvertrags über das Kraftfahrzeug voraussetzt.

Ausgehend von der Vorgabe des EuGH, den Verbrauchern einen „effektiven Schadensersatzanspruch“ zu gewähren, knüpft der BGH bei der erforderlichen Vermögensminderung an die jederzeitige Verfügbarkeit eines Kraftfahrzeugs an, der ein für sich gesehen ein Geldwert zukomme.

Mit „Rücksicht auf den geldwerten Vorteil der jederzeitigen Verfügbarkeit eines Kraftfahrzeugs“, genüge schon „die rechtliche Möglichkeit einer Nutzungsbeschränkung, die mit der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung gegeben ist“ (vgl. Rn. 42 des Urteils), um einen Schaden zulasten es Autokäufers anzunehmen.

Entsprechend erleidet der Käufer eines Fahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne des Unionsrechts versehen ist, stets einen Schaden, weil aufgrund einer drohenden Betriebsbeschränkung oder Betriebsuntersagung die Verfügbarkeit des Fahrzeugs in Frage steht.

Zugunsten des Käufers greift dabei laut BGH der bereits erwähnte Erfahrungssatz, dass er im Falle der Ausstattung des Fahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung das Fahrzeug nicht zu dem vereinbarten Preis gekauft hätte. Entsprechend ist für den erforderlichen Vermögensvergleich auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses abzustellen.

Schadenshöhe im Bereich von 5% bis 15% des gezahlten Kaufpreises

Ausgehend von den Vorgaben des EUGH, wonach das nationale Recht eine effektive Sanktion für die Verletzung des Unionsrechts bereithalten muss, hat der BGH weiter entschieden, dass dem einzelnen Käufer stets und ohne Erforderlichkeit eines Schadensgutachtens ein Schadensersatz in Höhe von wenigstens 5% und höchstens 15% des gezahlten Kaufpreises zu gewähren ist.

Begründet hat der BGH die Schätzung eines Schadens innerhalb dieser Spanne damit, dass einerseits ein Mindestschaden erforderlich sei, um so eine hinreichend effektive Sanktionierung sicherzustellen, anderseits aber berücksichtigt werden müsse, dass Gründe der Verhältnismäßigkeit und auch der den Hersteller treffende Kumulierungseffekt infolge mehrfacher Verkäufe eine Obergrenze gebieten.

Der BGH hat zur Begründung der Schätzungsspanne im Einzelnen ausgeführt (vgl. Rn. 72 ff. des Urteils):

„Nach § 287 Abs. 1 Satz 1 ZPO hat der Tatrichter die Höhe des Schadens unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung zu schätzen. Mit der Einräumung der Befugnis der Schadensschätzung nimmt das Gesetz in Kauf, dass das Ergebnis der Schätzung die Wirklichkeit nicht vollständig abbildet, solange sie nur möglichst nahe an diese heranführt. (…)

Die Schätzung des Differenzschadens unterliegt in den Fällen des Vertrauens eines Käufers auf die Richtigkeit der Übereinstimmungsbescheinigung bei Erwerb eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Kraftfahrzeugs unionsrechtlichen Vorgaben. (…)

Der geschätzte Schaden kann aus Gründen unionsrechtlicher Effektivität nicht geringer sein als 5% des gezahlten Kaufpreises. Anderenfalls wäre die Sanktionierung eines auch bloß fahrlässigen Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 im Hinblick auf die Förderung der unionsrechtlichen Ziele wegen ihrer Geringfügigkeit nicht hinreichend wirksam. (…)

Ein allein nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV und nicht auch nach §§ 826, 31 BGB geschuldeter Schadensersatz kann umgekehrt aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht höher sein als 15% des gezahlten Kaufpreises. Die Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV umfasst Fälle objektiv vergleichsweise geringfügiger Rechtsverstöße, die der Gesetzgeber lediglich als Ordnungswidrigkeit eingeordnet hat. Hinzu kommt, dass die Haftung gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV den Fahrzeughersteller bezogen auf ein einzelnes Kraftfahrzeug im Falle der mehrfachen Veräußerung mehrfach trifft, so dass ein Kumulierungseffekt eintreten kann. (…)

Innerhalb dieser Bandbreite obliegt laut BGH die genaue Festlegung dem Tatrichter, der sein Schätzungsermessen ausüben kann, ohne sich vorher sachverständig beraten lassen zu müssen.

Ausblick

Dieses BGH-Urteil wird nicht das letzte zum Dieselskandal gewesen sein.

Das Urteil zeigt das nachvollziehbare und begrüßenswerte Bemühen des BGH, die Eingriffe des EuGH in die grundsätzlich allein den Mitgliedstaaten obliegende Regelung deliktsrechtlicher Ansprüche auf ein Minimum zu begrenzen. Besonders zeigt sich dies beim Verschuldenserfordernis, an dem der BGH mit „krampfhaft“ anmutender Begründung festhält, obwohl der EuGH von jedem Mitgliedstaat einen Schadensersatzanspruch fordert, der allein an eine unzulässige Abschalteinrichtung anknüpft.

Close up of nozzles in diesel engine under opened bonnet
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Ratgeber ZPO: Nachschieben von Beweisantritten nach erfolgter Beweisaufnahme

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Ratgeber ZPO: Nachschieben von Beweisantritten nach erfolgter Beweisaufnahme

Der Bundesgerichtshof stellt an das Vorliegen der Voraussetzungen einer Zurückweisung von Parteivortrag wegen Verspätung generell strenge Anforderungen.

In einem praxisrelevanten Fall hatte ein Berufungsgericht eine Beweisaufnahme durchgeführt und den Parteien anschließend, wie üblich, eine bestimmte Frist eingeräumt, um Stellung zu den Ergebnissen der Beweisaufnahme zu nehmen. Innerhalb dieser Frist berief sich die beweisführende Partei auf einen bislang nicht benannten Zeugen. Das Berufungsgericht ließ diesen Beweisantrag fälschlicherweise unberücksichtigt und entschied zu Unrecht auf Verspätung, wie der BGH in seinem Beschluss vom 23. März 2021 (Az. II ZR 80/20) feststellte. Der Grund dafür liegt darin, dass die Möglichkeit zur Stellungnahme zu den Ergebnissen der Beweisaufnahme einem Schriftsatznachlass gleichkommt und dadurch der Abschluss der mündlichen Verhandlung nach hinten verlegt wird.

Das Urteil

Der BGH hat ausgeführt:

(…)

Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet (st. Rspr., BGH, Beschluss vom 20. Oktober 2020 – VII ZR 577/19, NJW-RR 2021, 58 Rn. 9 mwN).

 

Das Berufungsgericht durfte den Beweisantritt des Beklagten auf Vernehmung seiner Ehefrau als Zeugin nicht nach § 296a ZPO zurückweisen.

 

Im Gegensatz zur Auffassung des Berufungsgerichts hat der Beklagte den Beweisantrag nicht nach Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt. Das Berufungsgericht hat auch dem Beklagten die Möglichkeit eröffnet, zur Beweisaufnahme Stellung zu nehmen, und hierfür eine Schriftsatzfrist eingeräumt, die der Beklagte gewahrt hat. Durch die Einräumung einer Schriftsatzfrist wird für die betroffene Partei der Schluss der mündlichen Verhandlung hinsichtlich des zulässigen Erwiderungsvorbringens bis zum Ablauf der Frist verlängert (vgl. BGH, Urteil vom 21. April 2015 – II ZR 255/13, NJW-RR 2015, 893 Rn. 12).

 

Die Rechtzeitigkeit des Beweisantrags kann nicht deshalb in Frage gestellt werden, weil es sich um ein im Hinblick auf die Fristgewährung unzulässiges Vorbringen gehandelt hätte. Das Recht, zu dem Ergebnis der Beweisaufnahme Stellung zu nehmen, umfasst auch das Recht, neue Beweisanträge zu stellen (BGH, Urteil vom 25. Oktober 2013 – V ZR 147/12, NJW 2014, 550 Rn. 25 mwN).

 

Unerheblich sind die Erwägungen des Berufungsgerichts, der Beklagte sei gehalten gewesen, seinen Beweisantrag früher zu stellen. Für die Voraussetzungen des § 296a ZPO sind diese Ausführungen ohne Bedeutung. Inwieweit diese Umstände eine Zurückweisung des Beweisantritts aus anderen Präklusionsvorschriften rechtfertigen können (§ 531 Abs. 2, §§ 530, 296 Abs. 1, § 525 Satz 1 i.V.m. §§ 282, 296 Abs. 2 ZPO), bedarf hier keiner Entscheidung, weil dem Bundesgerichtshof als Rechtsmittelgericht versagt ist, die Zurückweisung auf eine andere als von der Vorinstanz angewandte Vorschriften zu stützen (BGH, Versäumnisurteil vom 22. Februar 2006 – IV ZR 56/05, NJW 2006, 1741 Rn. 12; Beschluss vom 21. März 2013 – VII ZR 58/12, NJW-RR 2013, 655 Rn. 11).

(…)

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Meine Bewertung:

Dem Urteil ist zuzustimmen, da die Annahme einer Verspätung für die betroffenen Partei weitreichende Folgen hat. Vorliegend fand die Begründung des Berufungsgerichts für die angenommene Verspätung in der Zivilprozessordnung keine Stütze. Über andere Verspätungsgründe, die das Berufungsgericht nicht in Betracht gezogen hatte, war vom BGH nicht zu entscheiden.

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Ratgeber: Internationales Zivilprozessrecht – Zur Verjährungshemmung durch Klagerhebung nach der EU-Zustellungsverordnung (EUZVO)

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Zur Verjährungshemmung durch Klagerhebung nach der EU-Zustellungsverordnung (EUZVO)

Die EU-Zustellungsverordnung (EUZVO) regelt die Übermittlung gerichtlicher Schriftstücke im EU-Rechtsverkehr und hat auch erhebliche Bedeutung für die Verjährungshemmung. Obwohl die EUZVO nicht neu ist, beschäftigen sich die Gerichte fortlaufend mit Fragen im Zusammenhang mit Auslandszustellungen. Ein wichtiger Aspekt betrifft die Voraussetzungen für eine wirksame Verjährungshemmung durch Klageeinreichung. Wenn Klagen – wie häufig und grundsätzlich zulässig – in letzter Minute beim Gericht eingereicht werden, findet § 167 ZPO Anwendung. Dieser lautet:

„Soll durch die Zustellung eine Frist gewahrt werden oder die Verjährung neu beginnen oder nach § 204 des Bürgerlichen Gesetzbuchs gehemmt werden, tritt diese Wirkung bereits mit Eingang des Antrags oder der Erklärung ein, wenn die Zustellung demnächst erfolgt.“

„Demnächst“ verlangt vom Kläger, dass er alles Zumutbare getan hat, damit die Zustellung schnellstmöglich erfolgen kann. Als Beispiel ist die Einzahlung des meist verlangten Kostenvorschusses zu nennen, die der Kläger umgehend zu leisten hat.

Die EUZVO hat in diesem Zusammenhang eine Frage aufgeworfen, mit der sich vor nicht langer Zeit der BGH in seinem Urteil vom 25.02.2021 (Az. IX ZR 156/19) beschäftigt hat. Die Vorinstanz, das OLG Frankfurt, hatte zuvor nach Auffassung des Verfassers ein klares Fehlurteil getroffen, das der BGH in einem aufschlussreichen Urteil zu diversen Fragen der EUZVO korrigiert hat.

Problembeschreibung

Es geht um Folgendes:

Die EUZVO sieht im Hinblick auf die Beifügung der Übersetzung der Klage für den Kläger Wahlmöglichkeiten vor (vgl. Artikel 8 Abs. 1 bis 3 der EUZVO).

So hat der Kläger die Wahl, ob er der Klage von vornherein eine Übersetzung in die Sprache des Beklagten beifügt oder nicht. Der Empfänger kann dann den Empfang der Klage durch Rücksendung  verweigern, wenn er die Sprache des Klägers nicht versteht. War die Verweigerung der Annahme berechtigt, muss die Zustellung mit Übersetzung nachgeholt werden. Im vorliegenden Fall hatte sich der Kläger dazu entschieden, von vornherein eine Übersetzung beizufügen. Bis zu Zustellung mit Übersetzung verging hierbei ein sehr erheblicher Zeitraum. Dies hat – klar zu Unrecht! – das OLG Frankfurt dem Kläger angelastet, der ja die Möglichkeit gehabt hätte, die Klage zunächst ohne Übersetzung und damit zügiger  an den Beklagten zu übermitteln.

Das BGH-Urteil

Der Auffassung des OLG Frankfurt hinsichtlich der wirksamen Verjährungshemmung nach der EUZVO hat der BGH überzeugend eine klare Absage erteilt.

Der BGH hat zunächst unter anderem die folgenden allgemeinen Feststellungen im Hinblick auf die EU-Auslandszustellung von Klagen sowie die Frage der Verjährungshemmung nach der EUZVO getroffen:

(…)

Soll durch die Zustellung eine Frist gewahrt werden, tritt diese Wirkung nach § 167 ZPO bereits mit Eingang des Antrags oder der Erklärung ein, wenn die Zustellung demnächst erfolgt.

(…)

Zwar ist die Klage erst am 9. Dezember 2016 und damit mehr als elf Monate nach Ablauf der Verjährungsfrist zugestellt worden. Das ist jedoch unschädlich, weil die Zustellung „demnächst“ im Sinne von § 167 ZPO erfolgt ist.

(…)

Dabei darf nicht auf eine rein zeitliche Betrachtungsweise abgestellt werden. Vielmehr sollen, weil die Zustellung von Amts wegen geschieht, die Parteien vor Nachteilen durch Verzögerungen innerhalb des gerichtlichen Geschäftsbetriebes bewahrt werden, denn diese Verzögerungen können von ihnen nicht beeinflusst werden. Es gibt deshalb keine absolute zeitliche Grenze, nach deren Überschreitung eine Zustellung nicht mehr als „demnächst“ anzusehen ist. Dies gilt auch dann, wenn es zu mehrmonatigen Verzögerungen kommt. Denn Verzögerungen im Zustellungsverfahren, die durch eine fehlerhafte Sachbehandlung des Gerichts verursacht sind, muss sich die Partei, der die Fristwahrung obliegt, grundsätzlich nicht zurechnen lassen.

(…)

Der Partei sind jedoch solche nicht nur geringfügigen Verzögerungen zurechenbar, die sie oder ihr Prozessbevollmächtigter (§ 85 Abs. 2 ZPO) bei gewissenhafter Prozessführung hätten vermeiden können (BGH, Urteil vom 12. September 2019, aaO). Verzögerungen sind mithin dann zurechenbar, wenn die Partei oder ihr Prozessbevollmächtigter durch nachlässiges – auch leicht fahrlässiges – Verhalten zu einer nicht bloß geringfügigen Zustellungsverzögerung beigetragen haben.

(…)

Gemessen hieran liegt eine durch den Kläger verschuldete Verzögerung der Zustellung nicht vor.

(…)

Gemäß Art. 5 Abs. 1 EuZVO hat die Übermittlungsstelle den Zustellungsveranlasser („Antragsteller“) auf die Gefahr einer etwaigen Verweigerung der Annahme durch den Empfänger eines nicht in einer der in Art. 8 EuZVO genannten Sprachen abgefassten oder übersetzten (Art. 8 Abs. 1 EuZVO) Schriftstücks hinzuweisen. Gleichwohl obliegt dem Antragsteller die Entscheidung, ob eine Übersetzung des betreffenden Schriftstücks erforderlich ist, deren Kosten er nach Art. 5 Abs. 2 EuZVO zu tragen hat (EuGH, Urteil vom 16. September 2015 – C-519/13, Alpha Bank Cyprus, RIW 2015, 748 Rn. 35). Er hat insoweit das Wahlrecht.

(…)

Entscheidet sich der Zustellungsveranlasser für eine Zustellung ohne Übersetzung, werden die Rechte des Empfängers gemäß Art. 8 Abs. 1 EuZVO dadurch geschützt, dass dieser die Annahme verweigern kann, wenn die Schriftstücke in einer Sprache verfasst sind, die er nicht versteht und die nicht die Amtssprache des Empfangsstaats ist (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Dezember 2006 – VII ZR 164/05, NJW 2007, 775 Rn. 16). Darüber wird der Empfänger in dem Formblatt gemäß Anhang II der EuZVO belehrt, das ihm mit der Zustellung ausgehändigt werden muss.

(…)

Als Zwischen-Fazit lässt sich zu den Anforderungen an eine Verjährungshemmung nach der EUZVO festhalten, dass

  • das Erfordernis der „Demnächst“-Zustellung vom Kläger verlangt, dass er seinen Beitrag zu einer unverzögerten Zustellung leistet. Rein gerichtliche Versäumnisse sind irrelevant.
  • die EUZVO dem Kläger bei der EU-Auslandszustellung Wahlmöglichkeiten einräumt, die Einfluss auf die (erstmalige, ggf. nicht übersetzte) Zustellung haben.

Zu der Frage, ob der Kläger zur Wahrung des „Demnächst“-Erfordernisses in seinen Wahlmöglichkeiten eingeschränkt sein könnte (so das OLG Frankfurt), hat dann der BGH folgende zutreffende Ausführungen getroffen:

(…)

Dem Zustellungsveranlasser sind Verzögerungen, welche sich aus der von ihm getroffenen Wahl der Zustellung nach Art. 5 und Art. 8 EuZVO ergeben, nicht anzulasten. Allerdings ist diese Frage höchstrichterlich noch nicht geklärt und in der Literatur umstritten.

In der Literatur wird einerseits die Auffassung vertreten, der Antragsteller dürfe im Rahmen des § 167 ZPO jedenfalls keine der in der EuZVO geregelten Zustellungsvarianten auswählen, die zu einer nicht nur geringfügigen Verzögerung führe; es bestehe vielmehr die Obliegenheit, die Möglichkeiten der beschleunigten Zustellung in dem Umfang wahrzunehmen, wie sie von der EuZVO eröffnet seien (vgl. Musielak/Voit/Stadler, ZPO, 17. Aufl., Art. 8 EuZVO Rn. 1; Nagel/Gottwald/Gottwald, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl., § 8 Rn. 8.67; Hüßtege/Mansel/Brand, Rom-Verordnungen, 3. Aufl., Das anwaltliche Mandat im internationalen Schuldrecht, Rn. 45; Kern/Diehm/Diehm, ZPO, 2. Aufl., § 167 Rn. 10; BeckOK-ZPO/Dörndorfer, 2020, § 167 Rn. 4; Kuntze-Kaufhold/Beichel-Benedetti, NJW 2003, 1998, 1999; Grootens, MDR 2019, 1046, 1047). Andererseits soll eine gesetzlich – wie hier durch die EuZVO – eröffnete Wahlfreiheit die Obliegenheiten des § 167 ZPO nicht verschärfen können (Zöller/Greger, ZPO, 33. Aufl., § 167 Rn. 15; Niehoff, IWRZ 2019, 232; Hess, IPRax 2020, 127, 128).

Die letztgenannte Auffassung ist zutreffend. Es stellt keine nachlässige Prozessführung dar, eine von der EuZVO eröffnete Art der Zustellung in Anspruch zu nehmen, auch wenn sich hierdurch die Zustellung im Vergleich zu anderen Möglichkeiten möglicherweise verzögert. Es besteht weder eine Verpflichtung noch eine Obliegenheit des Zustellungsbetreibers, die Klage ohne Übersetzung zustellen zu lassen.

(…)

Das nationale Gericht müsse in jedem Einzelfall für einen ausgewogenen Schutz der jeweiligen Rechte der betroffenen Parteien Sorge tragen, indem es das Ziel der Wirksamkeit und Schnelligkeit der Zustellung im Interesse des Antragstellers und das Ziel eines effektiven Schutzes der Verteidigungsrechte des Empfängers gegeneinander abwäge (EuGH, Urteil vom 8. November 2005 – C-443/03, Leffler, Slg. 2005, I-09611 Rn. 68; Beschluss vom 28. April 2016 – C-384/14, Alta Realitat S.L, juris Rn. 58).

Hiermit ist die – auch von dem Berufungsgericht aufgegriffene – Argumentation, die Zustellung ohne Übersetzung sei für den Antragsteller im Hinblick auf Art. 8 Abs. 3 Satz 3 EuZVO „nicht gefährlich“ (vgl. Fabig/Windau, NJW 2017, 2502, 2503; Grootens, MDR 2019, 1046, 1047), nicht vereinbar. In diesem Lichte kann der Antragsteller nicht darauf verwiesen werden, zum Zwecke der Fristwahrung einen Zustellungsversuch ohne Übersetzung zu unternehmen. Die Annahme einer solchen Obliegenheit würde diese Art der Zustellung zum Regelfall machen (vgl. Hess, IPRax 2020, 127). Das würde jedoch weder die Interessen des Empfängers noch diejenigen des Antragstellers hinreichend berücksichtigen.

Zum einen entspricht es nicht der Zielrichtung der EuZVO, dass der Antragsteller sein Wahlrecht stets ohne Rücksicht auf die Sprachkenntnisse des Empfängers ausübt.

(…)

Zum anderen berücksichtigt die Annahme einer Obliegenheit, zunächst einen Zustellungsversuch ohne Übersetzung zu unternehmen, auch nicht die berechtigten Interessen des Antragstellers. Er wäre gehalten, das Risiko einer berechtigten Annahmeverweigerung des Empfängers nach Art. 8 Abs. 1 EuZVO auch dann einzugehen, wenn er sicher weiß, dass der Empfänger sprachunkundig ist. Macht der Empfänger tatsächlich von seinem Annahmeverweigerungsrecht Gebrauch, ist dies für den Antragsteller in mehrfacher Hinsicht mit Nachteilen behaftet, die sich ihrerseits aus Art. 8 Abs. 1, Abs. 3 EuZVO ergeben. Es muss eine neue Zustellung vorgenommen werden, die für die vom Antragsteller zu wahrenden Fristen grundsätzlich ex nunc wirkt (vgl. Eichel, IPRax 2017, 352, 353 mwN). Den Antragsteller trifft im Hinblick auf Art. 8 Abs. 3 Satz 3 EuZVO nunmehr ein zusätzliches Verjährungsrisiko, weil er mit der erneuten Zustellung nicht beliebig zuwarten kann und ungeklärt ist, welcher Zeitraum ihm hierfür zur Verfügung steht (vgl. Rn. 26).

Darüber hinaus tritt als Folge der Annahmeverweigerung eine Verfahrensverzögerung ein. Diese resultiert nicht nur aus der Notwendigkeit, dass nun doch eine Übersetzung angefertigt werden und die Zustellung wiederholt werden muss. Vielmehr tritt der Zeitverlust auch dadurch ein, dass Art. 8 Abs. 3 Satz 3 EuZVO die Rückwirkung auf das „Verhältnis zum Antragsteller“ beschränkt. Denn die Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks darf nicht zum Lauf von Verteidigungsfristen zu Lasten des Empfängers führen, solange dieser den Inhalt des Schriftstücks nicht verstehen kann (vgl. EuGH, Urteil vom 8. November 2005 – C-443/03, Leffler, Slg. 2005, I-09611 Rn. 67 f; s. auch Eichel, IPRax 2017, 352, 353). Daher beginnt der Lauf der Klageerwiderungsfrist gemäß Art. 8 Abs. 3 Satz 2 EuZVO erst mit Zustellung der Übersetzung (vgl. Rauscher/Heiderhoff, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, 4. Aufl., Bd. 2, A.II.1, Art. 8 Rn. 24).

Eine Einengung des in Art. 5 Abs. 1 EuZVO vorausgesetzten Wahlrechts würde letztlich auch bedeuten, den Zustellungsbetreiber daran zu hindern, den sichersten Weg zu beschreiten. Selbst wenn er positive Kenntnis von den Sprachfertigkeiten des Empfängers hat und eine Übersetzung danach entbehrlich wäre, besteht die Gefahr, dass der Empfänger die Annahme (unberechtigt) verweigert. Ein Streit über die Berechtigung der Annahmeverweigerung (vgl. hierzu Geimer/Schütze/Geimer, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 4. Aufl., Art. 8 EuZVO Rn. 9 ff) kann den Verfahrensgang erheblich verzögern. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht zumutbar, dem Antragsteller im Rahmen des § 167 ZPO eine Vorgehensweise abzuverlangen, die für ihn mit prozessualen Nachteilen verbunden sein kann.

(…)

Als weiteres Zwischen-Fazit ist damit festzuhalten, dass nach den zutreffenden Ausführungen des BGH zu den Anforderungen an eine wirksame Verjährungshemmung nach der EUZVO

  • der Kläger nach der EUZVO mit Grund die Wahl hat, ob er mit oder ohne Übersetzung zustellen lassen will,
  • die Zustellung mit Übersetzung für den Kläger der sicherste Weg ist,
  • die mit Blick auf die Verjährung obligatorische Zustellung ohne Übersetzung für den Kläger ihm nicht zumutbare Risiken mit sich brächte, und
  • die Zustellung zunächst ohne Übersetzung am Ende zu einer deutlich verzögerten Zustellung führen kann.

Schließlich hat der BGH „abrundend“ klargestellt, dass der Kläger auch frei in der Entscheidung ist, ob er die Übersetzung selbst oder über das Gericht anfertigen lässt. Dazu der BGH:

(…)

Es stellt auch keine nachlässige Prozessführung dar, die Übersetzung nicht selbst beizubringen, sondern durch das Gericht in Auftrag geben zu lassen.

Im Ausgangspunkt darf ein Kläger zwar einerseits mit der Klageeinreichung bis zum letzten Tag vor Ablauf der Verjährungsfrist zuwarten, ohne dass ihm dies als Verschulden angerechnet wird (vgl. BGH, Urteil vom 7. April 1983 – III ZR 140/81, VersR 1983, 661, 663; vom 18. Mai 1995 – VII ZR 191/94, NJW 1995, 2230, 2231). Er hat dann andererseits aber alles Zumutbare zu unternehmen, um die Voraussetzungen für eine alsbaldige Zustellung zu schaffen (BGH, Beschluss vom 29. März 2018 – III ZB 135/17, NJW-RR 2018, 763 Rn. 16; Urteil vom 10. Dezember 2019 – II ZR 281/18, WM 2020, 276 Rn. 8; jeweils mwN). Hierbei liegt es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Verantwortungsbereich eines Klägers, alle für eine ordnungsgemäße Klagezustellung von ihm geforderten Mitwirkungshandlungen zu erbringen; hat der Kläger diese Mitwirkungshandlungen erbracht, liegt die weitere Verantwortung für den ordnungsgemäßen Gang des Zustellungsverfahrens ausschließlich in den Händen des Gerichts, dessen Geschäftsgang ein Kläger und sein Prozessbevollmächtigter nicht unmittelbar beeinflussen können (vgl. BGH, Urteil vom 12. Juli 2006 – IV ZR 23/05, BGHZ 168, 306 Rn. 20; vgl. auch BAG, Urteil vom 23. August 2012 – 8 AZR 394/11, BAGE 143, 50 Rn. 31 f). Für eine Verpflichtung oder Obliegenheit des Klägers und seines Prozessbevollmächtigten, auch noch in diesem Stadium des Verfahrens durch eine Kontrolle des gerichtlichen Vorgehens auf eine größtmögliche Beschleunigung hinzuwirken, fehlt die rechtliche Grundlage. Sie ergibt sich nicht aus dem Prozessrechtsverhältnis, weil der Kläger seinerseits bereits alles getan hat, was die Zivilprozessordnung für die Klagezustellung von ihm fordert (BGH, Urteil vom 12. Juli 2006, aaO Rn. 21; vom 1. Oktober 2019 – II ZR 169/18, juris Rn. 10 mwN; vgl. auch BAG, Urteil vom 15. Februar 2012 – 10 AZR 711/10, juris Rn. 48).

(…)“

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Fazit

Den Ausführungen des BGH zur Verjährungshemmung nach der EUZVO ist in jeder Hinsicht zuzustimmen.

Die gegengesetzten Argumente hinken vor allem daran, dass dem Kläger ohne gesetzliche Grundlage Pflichten und Risiken auferlegt werden. Es ist auch kaum ersichtlich, welche schützenswerten Interessen des Beklagten dem entgegenstehen könnten. Der Beklagte, der eine Klage nicht versteht, kann damit nichts anfangen. Die versuchte vermeintlich schnellere Zustellung geht so ins Leere. Und selbst wenn im Einzelfall die nicht übersetzte Klage „auf Verständnis“ stößt, ist der einzige Nutzen des Beklagten, einige, in den meisten Fällen kaum ins  Gewicht fallende Zeit früher von dem gegen ihn gerichteten Anspruch zu erfahren.

Lesen Sie auch meinen Beitrag zu den Wirksamkeitsvoraussetzungen eienr EU-Auslandszustellung!

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Zur Hinweispflicht des Gerichts im Zivilprozess

Es ist nicht selten, dass Gerichte bis zum ersten Verhandlungstermin – bis dahin können im schlimmsten Fall Jahre vergehen – schlichtweg schweigen. Die Parteien wissen so über lange Zeit nicht, wo sie stehen und erwarten mit großer Spannung den Verhandlungstermin, von dem sie sich endlich Erkenntnisse zur Sichtweise des Gerichts erhoffen. Erst während des Gerichtstermins erteilen Richter dann oft sog. gerichtliche Hinweise nach § 139 Abs. 2 u. 3 ZPO. Dieses Vorgehen ist rechtswidrig!

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„Beweisführung“ allein durch Parteivortrag möglich! – Zum Beschluss des BGH vom 10.03.2021 – Az. XII ZR 54/20

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"Beweisführung“ allein durch Parteianhörung möglich! – Zum Beschluss des BGH vom 10.03.2021 – Az. XII ZR 54/20

Wohl jedermann ist bekannt, dass die Beweisführung im Zivilprozess im Wesentlichen über Urkunden, Zeugen und Sachverständige erfolgt.

Demgegenüber sind Ausführungen der beteiligten Parteien (Parteivortrag) –  so meint man weitläufig – „nur“ Sachvortrag, der erst noch durch Beweise unterlegt werden muss, wenn man mit seinem Vorbringen Erfolg haben möchte.

Mit Beschluss vom 10.03.2021 (Az. XII ZR 54/20) hat der BGH – wie selbstverständlich – darauf hingewiesen, dass allein der Parteivortrag der Klagepartei ausreichend sein kann, um darauf ein Urteil zu stützen!

Der BGH hat ausgeführt:

„Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass dem angefochtenen Urteil ein entscheidungserheblicher Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zugrunde liegt, weil es versäumt hat, den entscheidungserheblichen Sachvortrag der Klägerin in der nach Art. 103 Abs. 1 GG gebotenen Weise zur Kenntnis zu nehmen und die angebotenen Beweise zu erheben (vgl. Senatsbeschluss vom 18. Dezember 2019 – XII ZR 67/19NJW-RR 2020, 392 Rn. 8 mwN).“


„Das Oberlandesgericht hat sich bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit
der Klägerin tragend auch darauf gestützt, dass ihre Angaben zur im Hinblick auf
eine für 2016 gemeinsam beabsichtigte Eheschließung mit dem Erblasser unter-
lassenen dinglichen Absicherung der Zahlung nicht glaubhaft seien. Insoweit hat es sich anhand des Sachvortrags und der persönlichen Anhörung der Klägerin keine Überzeugung bilden können und den der Klägerin obliegenden Beweis damit als nicht geführt erachtet. Dabei hat es aber wesentliches Vorbringen der Klägerin übergangen.“

Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Pro-
zessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dabei soll
das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge.“

Vorzitierte Passagen des BGH-Beschlusses stellen zunächst allgemein den zivilprozessualen Stellenwert von Parteivortrag dar.

In nachfolgender Feststellung erinnert der BGH dann an einen grundlegenden, vielen unbekannten zivilprozessualen Grundsatz:

„Zwar musste das Landgericht den Zeugenbeweis nicht erheben, nachdem es seine Überzeugungsbildung bereits auf die Angaben der Klägerin allein gestützt hatte. Wollte jedoch das Oberlandesgericht abweichend davon den Beweis über die von der Klägerin aufgestellte Behauptung nicht bereits durch das Ergebnis ihrer persönlichen Anhörung als geführt ansehen, so musste es entweder die weiter angebotenen Zeugenbeweise zusätzlich erheben und würdigen oder wenn es den über die innere Tatsache der Eheschließungsabsicht angetretenen Zeugenbeweis als nicht hinreichend mit beweiszugänglichen Indiztatsachen unterlegt ansah – die Klägerin darauf hinweisen. Indem es dies unterlassen hat, hat es das rechtliche Gehör der Klägerin verletzt.“

Hieraus folgt, dass ein Gericht sein Urteil allein auf Parteivortrag stützen kann! Lediglich dann, wenn es von diesem Parteivortrag abweichen möchte, ist (weiterer) Beweis zu erheben!

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Meine Bewertung:

Als selbstverständlich hat der BGH diesen Grundsatz zutreffend deshalb benannt, weil sich ein Gericht seine Überzeugung nach der Zentralnorm des § 286 Abs. 1 S.1 ZPO frei bildet:

„Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei.“

Hieraus folgt in der Tat selbstverständlich, dass das Gericht frei, das heißt ohne Notwendigkeit einer Beweisaufnahme, z.B. durch Einvernahme von Zeugen, seine Überzeugung hinsichtlich der Wahrheit bildet darf. Dementsprechend, ebenfalls selbstverständlich, darf das Gericht sein Urteil auch allein auf die Ausführungen einer Partei stützen.

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Zur Hinweispflicht des Gerichts im Zivilprozess

Es ist nicht selten, dass Gerichte bis zum ersten Verhandlungstermin – bis dahin können im schlimmsten Fall Jahre vergehen – schlichtweg schweigen. Die Parteien wissen so über lange Zeit nicht, wo sie stehen und erwarten mit großer Spannung den Verhandlungstermin, von dem sie sich endlich Erkenntnisse zur Sichtweise des Gerichts erhoffen. Erst während des Gerichtstermins erteilen Richter dann oft sog. gerichtliche Hinweise nach § 139 Abs. 2 u. 3 ZPO. Dieses Vorgehen ist rechtswidrig!

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Schätzung fiktiver Mängelbeseitigungskosten

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BGH-Urteil vom 11. März 2022 - V ZR 35/21: Kriterien für die gerichtliche Schätzung fiktiver Mängelbeseitigungskosten

Problemstellung

Bereits seit einiger Zeit ist durch eine Grundsatzentscheidung des BGH geklärt, dass der kaufvertragliche Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung gemäß den §§ 437 Nr. 3, 280, 281 BGB anhand der voraussichtlich erforderlichen, aber noch nicht aufgewendeten „fiktiven“ Mängelbeseitigungskosten bemessen werden kann, vgl. BGH-Urteil vom 12.03.2021, Az. V ZR 33/19.

Für die Praxis ist hieran anknüpfend von besonderer Relevanz, wie das im Einzelfall zur Entscheidung berufene Gericht die Höhe solcher fiktiven Schadenskosten zu bestimmen hat.  Ausgangspunkt hierfür bildet § 287 Abs. 1 ZPO, der wie folgt lautet:

„Ist unter den Parteien streitig, ob ein Schaden entstanden sei und wie hoch sich der Schaden oder ein zu ersetzendes Interesse belaufe, so entscheidet hierüber das Gericht unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung. Ob und inwieweit eine beantragte Beweisaufnahme oder von Amts wegen die Begutachtung durch Sachverständige anzuordnen sei, bleibt dem Ermessen des Gerichts überlassen. (…)“

Ungeklärt war bisher, nach welchen Grundsätzen das Gericht den vorzitierten § 287 Abs. 1 ZPO im konkreten Fall anzuwenden hat.

In einer neueren Entscheidung vom 11. März 2022 (Az. V ZR 35/21) hat der BGH den Instanzgerichten wertvolle Kriterien an die Hand gegeben.

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Das Urteil

Seiner Entscheidung vom 11. März 2022 (Az. V ZR 35/2) lag verkürzt folgender Sachverhalt zugrunde:

Streitgegenstand bildete der Kaufvertrag über ein Grundstück. Die Verkäufer hatten gegenüber den Käufern verschwiegen, dass die Außenabdichtung des Kellers unvollständig ist, und verlangten entsprechend Schadensersatz in Form fiktiver Mängelbeseitigungskosten.

Das Erstgericht hatte die Beklagten in Höhe fiktiver Mängelbeseitigungskosten von 144.800 Euro verurteilt. Das Berufungsgericht hat diesen Betrag auf 97.556 Euro herabgesetzt und die Revision mit Blick auf die Anspruchshöhe zugelassen.

Grundlage der vom Erst- sowie auch dem Berufungsgericht vorgenommenen Schätzung bildete ein Sachverständigengutachten, wonach zwei Mängelbeseitigungsvarianten in Betracht kamen. Nach der kostengünstigeren Variante A wäre die Unvollständigkeit der Abdichtung nicht vollständig zu beseitigen, nach der teureren Variante B mit Kosten von 138.920 Euro wäre Abdichtung vollständig möglich. Das Berufungsgericht hat angenommen, dass sich die Kläger mit Variante A nicht zufriedengeben müssten, allerdings sei ihren zu Lasten die vom Sachverständigen genannte Schätzungenauigkeit von +/- 30% zu berücksichtigen, da den Klägern nur das zuerkannt werden könne, was an Mängelbeseitigungskosten „sicher anfallen würde“. Unsicherheiten bei der Ermittlung der Mangelbeseitigungskosten dürften nicht zulasten des Schädigers gehen.

Der BGH hat in seiner Entscheidung zunächst die Annahme des Berufungsgerichts bestätigt, dass sich die Anspruchsteller nicht mit der kostengünstigsten Variante zufriedengeben müssten. Gleiches gilt für den abgelehnten Abzug „neu für alt“.

Im Übrigen aber hat er die Annahmen des Berufungsgerichts zur Bestimmung der konkreten Schadenshöhe als rechtlich nicht haltbar zurückgewiesen. Der BGH hat ausgeführt:

„Im Ausgangspunkt zutreffend nimmt das Berufungsgericht an, dass der kaufvertragliche Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung (kleiner Schadensersatz) gemäß den §§ 437 Nr. 3, 280, 281 BGB anhand der voraussichtlich erforderlichen, aber noch nicht aufgewendeten „fiktiven“ Mängelbeseitigungskosten bemessen werden kann.

Mit der Begründung des Berufungsgerichts können bei der Bemessung der Höhe des Schadensersatzanspruchs die durch den Sachverständigen ermittelten Kosten für die notwendigen Sanierungsarbeiten allerdings nicht um 30% gekürzt werden.

Den zur Mängelbeseitigung erforderlichen Betrag hat das Gericht gemäß § 287 Abs. 1 ZPO unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung zu ermitteln.

(…)

Das Berufungsgericht überspannt das Maß notwendiger Überzeugung im Rahmen des § 287 Abs. 1 ZPO und verkennt damit Rechtsgrundsätze der Schadensbemessung.

Steht der geltend gemachte Schadensersatzanspruch dem Grunde nach fest und bedarf es lediglich der Ausfüllung zur Höhe, kommt dem Geschädigten die Beweiserleichterung des § 287 ZPO zugute. Im Unterschied zu den strengen Anforderungen des § 286 Abs. 1 ZPO reicht bei der Entscheidung über die Schadenshöhe eine erhebliche, auf gesicherter Grundlage beruhende Wahrscheinlichkeit für die richterliche Überzeugungsbildung aus; dabei soll die Schätzung möglichst nahe an die Wirklichkeit heranführen.

Das hat das Berufungsgericht verkannt. Es meint, es dürfe nur der Betrag ausgeurteilt werden, der im Rahmen der vorzunehmenden Schätzung für die Mängelbeseitigung sicher anfalle, so dass bei einer Schätzungsbandbreite regelmäßig nur der untere Betrag als Schaden ausgeurteilt werden könne. Zu Unrecht fordert es damit für die von ihm vorzunehmende Schadensbemessung eine sogar im Rahmen des § 286 ZPO nicht erforderliche absolute Gewissheit. Zwar dürfen auch bei einer Schätzung gemäß § 287 ZPO Zweifel an der Höhe der zur Mängelbeseitigung erforderlichen Kosten im Grundsatz nicht zulasten des Schädigers gehen (vgl. BGH, Urt. v. 10.04.2003 – VII ZR 251/02NJW-RR 2003, 878, 879; OLG Celle, Urt. v. 17.01.2013 – 16 U 94/11BauR 2014, 134, 139). Es liegt aber in der Natur der Sache, dass bei der fiktiven Berechnung der für die Schadensbeseitigung erforderlichen Sanierungskosten eine (gewisse) Unsicherheit verbleibt, ob der objektiv zur Herstellung erforderliche (ex ante zu bemessende) Betrag demjenigen entspricht, der bei einer tatsächlichen Durchführung der Reparatur angefallen wäre oder anfallen würde. Wird der kaufvertragliche Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung (kleiner Schadensersatz) gemäß den §§ 437 Nr. 3, 280, 281 BGB anhand der voraussichtlich erforderlichen, aber (noch) nicht aufgewendeten („fiktiven“) Mängelbeseitigungskosten bemessen, hat das Gericht daher eine Schadensermittlung nach den Grundsätzen des § 287 Abs. 1 ZPO vorzunehmen und insoweit zu prüfen, in welcher Höhe ein Schaden überwiegend wahrscheinlich ist. Das gilt auch und gerade dann, wenn in einem Sachverständigengutachten eine Schätzungsbandbreite genannt wird. (…)“

Als Konsequenz vorzitierter Mängel hat der BGH den Fall zur erneuten Prüfung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen

Fazit

Mit dieser Entscheidung hat der BGH zunächst bestätigt, dass für die Ermittlung der fiktiven Schadenshöhe § 287 ZPO maßgeblich ist. Für die richterliche Überzeugungsbildung genügt hierbei eine

„erhebliche, auf eine gesicherte Grundlage beruhende Wahrscheinlichkeit.“

Ein am Ende verbleibender Rest Unsicherheit liegt in der Natur der erleichterten Schadensermittlung nach § 287 ZPO. Hieraus folgt für die Instanzgerichte, dass es gerade nicht zulässig ist, als Schaden den vom Sachverständigen benannten Minimalbetrag anzunehmen. Das Gericht hat sich richtigerweise an den höchstwahrscheinlich zur Mängelbeseitigung erforderlichen Betrag heranzutasten. Für Anspruchssteller bedeutet dies, dass es ratsam sein kann, zur Bestimmung der „wahrscheinlichen Kosten“ einen eignen Sachverständigen unterstützend hinzuzuziehen.

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Zur Hinweispflicht des Gerichts im Zivilprozess

Es ist nicht selten, dass Gerichte bis zum ersten Verhandlungstermin – bis dahin können im schlimmsten Fall Jahre vergehen – schlichtweg schweigen. Die Parteien wissen so über lange Zeit nicht, wo sie stehen und erwarten mit großer Spannung den Verhandlungstermin, von dem sie sich endlich Erkenntnisse zur Sichtweise des Gerichts erhoffen. Erst während des Gerichtstermins erteilen Richter dann oft sog. gerichtliche Hinweise nach § 139 Abs. 2 u. 3 ZPO. Dieses Vorgehen ist rechtswidrig!

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EUGH-Urteil „LKW Walter“

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EUGH-Urteil „LKW Walter“ zu Artikel 8 EUZVO 2007: Frist zur Annahmeverweigerung einer Zustellung aus dem europäischen Ausland und nationale Fristen

Problemstellung

Die im Ausgangspunkt sehr zu begrüßende Möglichkeit, auch im grenzüberscheitenden EU-Geschäftsverkehr eigene Rechte möglichst einfach und schnell durchsetzen zu können, birgt einige Tücken. Die Erfahrungen des Verfassers zeigen, dass die Wirtschaftsbeteiligten im Falle des Eingangs rechtlich relevanter Post aus dem Ausland oftmals überfordert sind. Dies hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass die aus dem Ausland eingehenden gerichtlichen Schriftstücke nicht selten den europarechtlichen Anforderungen nicht entsprechen. So sieht Art. 8 der Europäische Zustellungsverordnung 2007 (Verordnung Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.11.2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten; kurz: EUZVO 2007) vor, dass jedem Schriftstück, das Gerichte innerhalb der EU zustellen wollen, ein im Anhang der Verordnung vorgegebenes Formblatt beizufügen ist, aus dem sich die wichtigen Rechte des Empfängers ergeben. Ohne dieses Formblatt ist die Zustellung unwirksam, Fristen beginnen nicht zu laufen. Weiterhin sieht Art. 8 der EUZVO vor, dass dem Empfänger das Recht zu steht, die Annahme zu verweigern oder das Schriftstück binnen einer Woche zurückzusenden, wenn er es nicht verstehen kann. Dieser Fall ist sehr praxisrelevant, weil es eher Regel als Ausnahme ist, dass die Schriftstücke ohne Übersetzung in die Sprache des Empfängers auf den Weg gebracht werden.

Mit letzterem Schutzrecht des Empfängers – der einwöchigen Überlegungsfrist – hat sich jüngst der EUGH in seinem Urteil vom 7.7.2022 (C-7/21; „LKW Walter“) mit Blick auf die bedeutsame Frage beschäftigt, wie nationale Rechtsmittelfristen und die Frist zur Annahmeverweigerung (Überlegungsfrist) zusammenspielen.

Diesem Urteil des EUGH kommt große Bedeutung zu, da darin einmal mehr deutlich gemacht wird, dass die europäischen Vorschriften zum Schutz des Empfängers bei grenzüberschreitenden Zustellungen streng auszulegen sind und nationale Vorschriften, die diesen Schutz mindern, rechtswidrig und daher unbeachtlich sind.

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Das EUGH-Urteil „LKW-Walter“

Kurz gefasst lag dem Urteil des EUGH vom 7.7.2022 (C-7/21) der Sachverhalt zugrunde, dass in einer österreichisch-slowenischen Konstellation die slowenischen Gerichte einen aus Österreich erhobenen Einspruch gegen einen slowenischen Zahlungstitel als nicht fristgerecht erachtet hatten. Hierbei hatten die slowenischen Gerichte für den Beginn der Einspruchsfrist den Tag der Zustellung in Österreich zugrunde gelegt und somit die Wochenfrist des Art. 8 EUZVO 2007 bei Berechnung der sehr kurzen 8-tägigen Einspruchsfrist außer Acht gelassen. Gerechnet ab Zustellung war dann auch der durch österreichische Anwälte eingelegte Einspruch verfristet. Durch alle Instanzen hindurch hielten die slowenischen Gerichte an ihrer Berechnungsweise fest. Erst im Rahmen eines Anwaltshaftungsverfahrens kam es zur Vorlage des Falles beim EUGH.

 

Zu der letztlich allein relevanten Vorlagefrage, ob die Wochenfrist des Art. 8 EUZVO 2007 nationale Rechtsmittelfristen hemmt, hat der EUGH insbesondere die folgenden Feststellungen getroffen:

„35 Diese Möglichkeit, die Annahme des zuzustellenden Schriftstücks zu verweigern, stellt ein Recht des Empfängers dieses Schriftstücks dar (Urteil vom 6. September 2018, Catlin Europe, C 21/17, EU:C:2018:675, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der Empfänger kann dieses Recht bei der Zustellung des Schriftstücks oder binnen einer Woche ausüben, sofern er das Schriftstück innerhalb dieser Frist zurücksendet.“

„36 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich ebenfalls, dass dieses Recht, die Annahme eines zuzustellenden Schriftstücks zu verweigern, es ermöglicht, die Verteidigungsrechte des Empfängers dieses Schriftstücks unter Beachtung der in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerten Anforderungen an ein faires Verfahren zu schützen. Denn auch wenn die Verordnung Nr. 1393/2007 in erster Linie darauf abzielt, die Wirksamkeit und die Schnelligkeit der gerichtlichen Verfahren zu verbessern und eine ordnungsgemäße Rechtspflege zu gewährleisten, dürfen diese Ziele nicht dadurch erreicht werden, dass in irgendeiner Weise Abstriche bei der effektiven Wahrung der Verteidigungsrechte der Empfänger der betreffenden Schriftstücke gemacht werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2018, Catlin Europe, C 21/17, EU:C:2018:675, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).“

„41 Die praktische Wirksamkeit des Rechts, die Annahme eines zuzustellenden Schriftstücks zu verweigern, setzt zum einen voraus, dass der Empfänger über das Bestehen dieses Rechts belehrt worden ist, und zum anderen, dass er über die volle Frist von einer Woche verfügt, um zu beurteilen, ob er das Schriftstück annehmen oder seine Annahme verweigern soll, und um es im Fall der Verweigerung zurückzusenden.“

„45 Das mit Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 verfolgte Ziel, jede Diskriminierung zwischen diesen beiden Gruppen von Empfängern zu vermeiden, verlangt aber, dass die Empfänger, die das Schriftstück in einer anderen als der in dieser Bestimmung genannten Sprache erhalten, ihr Recht, die Annahme dieses Schriftstücks zu verweigern, ausüben können, ohne einen verfahrensrechtlichen Nachteil in Anbetracht ihrer grenzüberschreitenden Situation zu erleiden.“

„46  Folglich darf, wenn das zuzustellende Schriftstück nicht in einer der in dieser Bestimmung genannten Sprachen abgefasst oder in eine solche übersetzt ist, die Frist von einer Woche, die in Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 vorgesehen ist, nicht gleichzeitig mit der Frist zu laufen beginnen, die für die Einlegung eines Rechtsmittels nach der Regelung desjenigen Mitgliedstaats gilt, zu dem die Behörde gehört, die das Schriftstück ausgestellt hat, da andernfalls die praktische Wirksamkeit dieser Bestimmung in Verbindung mit Art. 47 der Charta beeinträchtigt würde. Die Rechtsmittelfrist muss vielmehr grundsätzlich nach Ablauf der in Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1393/2007 vorgesehenen Frist von einer Woche zu laufen beginnen.“

Fazit

Empfänger gerichtlicher Schriftstücke aus dem EU-Ausland sollten genau darauf achten, dass das ausländische Gericht die Rechte des Empfängers gemäß der EUZVO streng beachtet. Verstöße führen im Zweifel zur Unwirksamkeit der Zustellung. Fristen nach nationalem Recht des Ausgangsstaates können nicht zu laufen beginnen, bevor nicht eine wirksame Zustellung an den Empfänger erfolgt ist. Dies schließt ein, dass dem Empfänger die volle einwöchige Überlegungsrist des Art. 8 EUZVO 2007 [Anmerkung: Die neue EUZVO 2020 sieht in Art. 12 mittlerweile eine zweiwöchige Frist vor] zur Verfügung stand.

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Corona als Störung der Geschäftsgrundlage?

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Corona als Störung der Geschäftsgrundlage? Pacta sunt servanda – auch in Corona Zeiten!

Der BGH hat mit Blick auf Corona als Störung der Geschäftsgrundlage  jüngst in zwei richtungsweisenden Urteilen klargestellt, dass dem Grundsatz „pacta sunt servanda“ („Verträge sind einzuhalten“) auch unter ungewöhnlichen, von niemanden einkalkulierten Umständen wie die Corona-Krise besondere Beachtung gebührt. Richtig so!

Concept of signing to sign a contract.

Problembeschreibung: Corona als Störung der Geschäftsgrundlage?

Unzählige Vertragsverhältnisse konnten seit Beginn der Corona-Krise nicht planmäßig durchgeführt werden (vgl. dazu auch diesen Beitrag). Schuld waren meist die staatlichen Corona-Maßnahmen, für die naturgemäß keine der Vertragsparteien eine Verantwortung trifft. Dies hat die spannende Frage aufgeworfen, wie mit Fällen umzugehen ist, in denen die vertragliche Hauptleistung – z.B. die Überlassung der Räumlichkeiten in mietrechtlichen Konstellationen – trotz der Corona-Maßnahmen nach wie vor erbracht werden konnte, allerdings die Nutzung der Räume für den Mieter infolge der Corona-Maßnahme ganz oder teilsweise nicht möglich war.

Die Instanzgerichte haben in den zurückliegenden rund zwei Jahren unter Verweis auf Corona als Störung der Geschäftsgrundlage allzu leicht der belasteten Partei – im vorgenannten Beispiel also dem Mieter – das Recht auf Kürzung oder gar Fortfall der eigenen Leistungspflicht (z.B. Mietzahlung) zugesprochen. Oft wurde dabei pauschal vorgegangen und z.B. eine Teilung ausgeurteilt.

Dieses Vorgehen ist nach nun ergangener BGH-Rechtsprechung rechtlich nicht haltbar. Dieser Rechtsprechung ist zuzustimmen!

Die Klarstellungen des BGH zu Corona als Störung der Geschäftsgrundlage  im Einzelnen 

Ausgangspunkt: pacta sunt servanda

Wie schon eingangs erwähnt, hat der BGH in zwei aktuellen, für das Recht auf Vertragsanpassung nach § 313 BGB (Störung der Geschäftsgrundlage) richtungsweisenden Entscheidungen in begrüßenswert deutlicher Form klargestellt, dass Verträge auch im Falle einer späteren schwerwiegenden Änderung der vertraglichen Grundlagen grundsätzlich einzuhalten sind.

Würdigung der vereinbarten und/oder im Vertrag angelegten Risikoverteilung – wer trägt das Verwendungsrisiko?

Dies gilt insbesondere und selbstverständlich dann, wenn das sich infolge der geänderten Umstände realisierte Risiko einer Vertragspartei gesetzlich und/oder vertraglich zugewiesen ist.

Am Beispiel des Gewerberaummietrechts hat der BGH in seinem Urteil vom 12. Januar 2022, Az. XII ZR 8/21, erläutert, wie streng die Verpflichtung zum Einhalten eines geschlossenen Gewerbemietvertrages zu verstehen ist.

Dazu Folgendes:

Gegenstand dieses neuen Urteils des BGH vom 12. Januar 2022 war die vollständige Schließung eines Ladengeschäfts, die durch Corona bedingte behördliche Maßnahmen erforderlich geworden war.

Für den Mieter bedeutete dies für den Schließungszeitraum einen vollständigen Wegfall der Verwendungsmöglichkeiten hinsichtlich des von ihm angemieteten Gewerberaums.

Zu diesem Sachverhalt hat der BGH festgestellt, dass

  • der komplette Fortfall der Verwendungsmöglichkeiten weder einen Mangel der Mietsache noch einen Fall der Unmöglichkeit der Überlassung der Mietsache darstellt, und
  • bei mietrechtlichen Vertragsverhältnissen das sogenannte Verwendungsrisiko qua Gesetz beim Mieter liegt.

Gegenstand des Verwendungsrisikos ist dabei laut BGH insbesondere auch die Erwartung des Mieters ist, Gewinne erwirtschaften zu können.

Noch bedeutsamer ist die weitere Feststellung des BGH, dass die Übernahme des vorgeschriebenen Verwendungsrisikos auch nachträglich eintretende Umstände, z.B. in Form behördlicher Maßnahmen, umfasst. Der BGH hat ausgeführt:

„Das Verwendungsrisiko bezüglich der Mietsache trägt bei der Gewerberaummiete dagegen grundsätzlich der Mieter. Dazu gehört vor allem das Risiko, mit dem Mietobjekt Gewinne erzielen zu können. Erfüllt sich die Gewinnerwartung des Mieters aufgrund eines nachträglich eintretenden Umstandes nicht, so verwirklicht sich damit ein typisches Risiko des gewerblichen Mieters. Das gilt auch in Fällen, in denen es durch nachträgliche gesetzgeberische oder behördliche Maßnahmen zu einer Beeinträchtigung des Gewerbebetriebs des Mieters kommt (Senatsurteil vom 13. Juli 2011 – XII ZR 189/09NJW 2011, 3151 Rn. 8 f. mwN).“

Recht auf Vertragsanpassung als große Ausnahme

Als eine Konsequenz daraus, dass das Verwendungsrisiko auch nachträglich eintretende, dabei möglicherweise schwerwiegend wirkende, Umstände umfasst, hat der BGH weiterhin klargestellt, dass ein Anspruch der betroffenen Partei auf Vertragsanpassung unter dem Gesichtspunkt der Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB nicht in Betracht kommen kann, wenn und soweit die fraglichen Umstände, auf die ein solches Anpassungsrecht gestützt wird, vom von dieser Partei übernommenen Vertragsrisiko umfasst ist.

Der BGH hat dazu in wiederum begrüßenswerter Klarheit ausgeführt:

„Für eine Berücksichtigung der Regelungen über die Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) ist allerdings grundsätzlich insoweit kein Raum, als es um Erwartungen und um Umstände geht, die nach den vertraglichen Vereinbarungen in den Risikobereich einer der Parteien fallen sollen. Eine solche vertragliche Risikoverteilung bzw. Risikoübernahme schließt für die Vertragspartei regelmäßig die Möglichkeit aus, sich bei Verwirklichung des Risikos auf eine Störung der Geschäftsgrundlage zu berufen (Senatsurteil BGHZ 223, 290 = NJW 2020, 331 Rn. 37 mwN).“

Zwischen Fazit zur Bedeutung von Corona als Störung der Geschäftsgrundlage

„Pacta sunt servanda“ bedeutet, dass übernommene Vertragspflichten grundsätzlich auch bei einer nachträglichen schwerwiegenden Veränderung der dem Vertrag zugrunde liegenden Umstände unverändert fortgelten.

Insbesondere wenn also nach den getroffenen Vereinbarungen ein bestimmtes Vertragsrisiko, z.B. das Verwendungsrisiko, von einer Partei übernommen worden ist, so können Umstände, die dieses übernommene Risiko betreffen, nicht Basis eines Vertragsanpassungsanspruchs sein.

BEACHTE:

Selbst wenn eine Auslegung der Umstände des Einzelfalls ergibt, dass die im fraglichen Fall eingetretenen Umstände das übernommene Risiko „sprengen“, führt dies nicht dazu, dass die vereinbarte Risikoverteilung unbeachtlich wird.

Vielmehr trägt in solchen Fällen, auch dies hat der BGH klargestellt, die nach den getroffenen Vereinbarungen risikotragende Partei das verwirklichte Risiko nicht allein. Anhand der Umstände des Einzelfalles ist zu ermitteln, wie die Parteien an den Folgen des verwirklichten Risikos konkret zu beteiligen sind. Der BGH hat ausgeführt:

„Entgegen der Auffassung der Klägerin hat die Beklagte im vorliegenden Fall nicht vertraglich das alleinige Verwendungsrisiko für den Fall einer pandemiebedingten Schließung ihres Einzelhandelsgeschäfts übernommen.“

Wichtig an vorzitierter Feststellung ist wie gesagt, dass der BGH selbst bei einer kompletten Schließung nur annimmt, dass in diesem Fall das Verwendungsrisiko nicht allein beim Mieter zu sehen ist.

Inhalt und Verlust des Vertragsanpassungsrechts

Für den Fall, dass der betroffenen Partei ausnahmsweise ein Recht auf Vertragsanpassung gemäß den vorgeschriebenen Kriterien zuzubilligen ist, hat der BGH auf Rechtsfolgenseite, also mit Blick auf den Inhalt einer etwaigen Vertragsanpassung, wiederum dem Grundsatz des pacta sunt servanda ein hohes Gewicht beigemessen.

Mit weiterem Urteil vom 2. März 2022, Az XII. ZR 36/21 hat der BGH zunächst darauf hingewiesen, dass es für ein Recht auf Vertragsanpassung noch nicht ausreichend ist, dass die fraglichen veränderten Umstände das vertraglich übernommene Risiko übersteigen. Der BGH hat in seinem Urteil vom 12. Januar 2022 (Az. XII ZR 8/21) ausgeführt:

Auch wenn die mit einer pandemiebedingten Betriebsschließung verbundene

Gebrauchsbeeinträchtigung der Mietsache nicht allein dem Verwendungsrisiko des Mieters zugeordnet werden kann, bedeutet dies aber nicht, dass der Mieter stets eine Anpassung der Miete für den Zeitraum der Schließung verlangen kann.“

Vielmehr muss hinzukommen, dass unter Würdigung wiederum aller Umstände des Einzelfalls das unveränderte Festhalten am Vertrag als gänzlich unzumutbar erscheint.

Für die Frage der Zumutbarkeit kommt der vereinbarten Risikoverteilung besondere Bedeutung zu. Dies hat der BGH in diesem weiteren Corona-Urteil vom 2. März 2022 (Az. XII ZR 36/21) explizit herausgestellt:

Ob dem Mieter ein Festhalten an dem unveränderten Vertrag unzumutbar ist, bedarf auch in diesem Fall einer umfassenden Abwägung, bei der sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind (§ 313 Abs. 1 BGB). Dabei kann eine Anpassung nur insoweit verlangt werden, als dem einen Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann. Das Gericht muss daher nach § 313 Abs. 1 BGB diejenigen Rechtsfolgen wählen, die den Parteien unter Berücksichtigung der Risikoverteilung zumutbar sind (MünchKommBGB/Finkenauer 8. Aufl. § 313 Rn. 89) und durch die eine interessengerechte Verteilung des verwirklichten Risikos bei einem möglichst geringen Eingriff in die ursprüngliche Regelung hergestellt wird (BGH Urteil vom 21. September 1995 – VII ZR 80/94ZIP 1995, 1935, 1939 mwN).“

Den vorzitierten Ausführungen des BGH ist eine weitere wichtige und dabei sehr begrüßenswerte Feststellung zu entnehmen. Diese besteht darin, dass im Falle der Bejahung eines Vertragsanpassungsanspruchs inhaltlich eine Anpassung zu wählen ist, die einen möglichst geringen Eingriff in das ursprünglich Vereinbarte darstellt. Damit hat der BGH ein weiteres Mal den hohen Stellenwert des Pacta-sunt-servanda Grundsatzes herausgestellt.

Vertragsanpassungen sind nach den zutreffenden Ausführungen des BGH „Millimeter Arbeit“.

Jede inhaltliche Anpassung des Vereinbarten bedarf einer besonderen Rechtfertigung, die unter Beachtung der vorbeschriebenen Kriterien und unter Abwägung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu begründen ist.

BEACHTE:

Aus dem Dargestellten folgt, konsequenterweise, dass die unter Umständen anspruchsberechtigte Partei ihr Vertragsanpassungsrecht auch wieder – und zwar endgültig – verlieren kann!

Dies gilt nämlich dann, wenn die Partei das ihr angebotene Anpassungsrecht endgültig ablehnt. Letzteres war im vom BGH mit Urteil vom 2. März 2022 entschiedenen Fall gegeben.

In diesem Fall musste die dort streitgegenständliche Hochzeitsfeier Corona-bedingt für den geplanten Termin abgesagt werden. Vom Vermieter der Hochzeitsräumlichkeiten waren Ersatztermine genannt worden, an denen das Brautpaar allerdings kein Interesse mehr zeigte, es wollte ausschließlich die bereits gezahlte Miete erstattet bekommen.

Der BGH hat dazu entschieden, dass der Anspruch auf Rückzahlung der Miete nicht besteht. Das Ehepaar hätte sich zumindest mit einer Verschiebung der Feier einverstanden erklären müssen. Da es dies abgelehnt hatte, blieb es bei der Mietzahlungspflicht. 

Der BGH hat ausgeführt (ab Rz. 41 des Urteils):

(…) Rechtsfehlerhaft ist dagegen, dass das Berufungsgericht nicht ausreichend in den Blick genommen hat, ob sich der Anspruch der Kläger nach § 313 Abs. 1 BGB auf Vertragsanpassung auf die von der Beklagten angebotene Verlegung der Hochzeitsfeier beschränkt, weil bereits dadurch eine interessengerechte Verteilung des Pandemierisikos bei einem möglichst geringen Eingriff in die ursprüngliche Regelung hergestellt werden kann. (…)  Dabei hat es jedoch nicht angemessen berücksichtigt, dass die Beklagte den Klägern bereits am 26. März 2020 eine Vielzahl von Ausweichterminen, auch für das Jahr 2021, angeboten hat, die den Klägern eine langfristige Planung auch unter Berücksichtigung der weiteren Entwicklung des Pandemiegeschehens ermöglicht hätte. Dieses Angebot zu einer kostenlosen Umbuchung des Termins hat die Beklagte am 25. April 2020 wiederholt. Die Kläger waren jedoch zu weiteren Verhandlungen mit der Beklagten über eine angemessene Vertragsanpassung nicht bereit und haben das Angebot auf Verlegung des Termins pauschal abgelehnt. Dies zeigt, dass die Kläger an einer interessengerechten Lösung nicht interessiert waren, sondern allein eine Aufhebung des Mietvertrags erreichen und damit das Risiko der Absage der Feier einseitig auf die Beklagte verlagern wollten.

(…)

Die von den Klägern angestrebte Vertragsanpassung dahingehend, dass sie von ihrer Verpflichtung zur Mietzahlung ganz oder teilweise befreit werden, kommt somit nicht in Betracht, weil ihnen die Annahme des Angebots der Beklagten auf Verlegung des Termins für die geplante Hochzeitsfeier unter Abwägung aller Umstände einschließlich der vertraglichen Risikoverteilung (§ 313 Abs. 1 BGB) zumutbar ist. (…)“

BEACHTE:

Wesentlich ist das vorzitierte Urteil vom 2. März 2022 auch unter einem weiteren Gesichtspunkt. Denn der BGH hat in diesem Urteil, das im Anschluss an das erste Corona-Urteil vom 12. Januar 2022 (BGH-Urteil vom 12.02.2022, Az. XII ZR 8/21), bei dem es bekanntlich um Gewerbemietrecht ging, ergangen ist, nun auch für den  Verbraucherbereich entschieden, dass der Grundsatz „pacta sunt servanda“ sehr streng anzuwenden ist und eine Vertragsanpassung daher nur in absoluten Ausnahmefällen gerechtfertigt sein kann.

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Corona als Störung der Geschäftsgrundlage? – Gesamt-Fazit

Pacta sunt servanda! Auch in Corona-Zeiten.

 

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