Ermittlung von Handelsbräuchen im Zivilprozess
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In vielen wirtschaftlichen Konfliktlagen stehen zwei Ebenen nebeneinander. Auf der einen Seite stehen der Vertrag und die Kommunikation zwischen den Parteien. Auf der anderen Seite steht die tatsächliche Praxis im Markt. Hier kann es etwa darum gehen, ob in laufenden Lieferbeziehungen bestimmte Zahlungsziele und Skontofristen als selbstverständlich vorausgesetzt werden, wie in Rahmenlieferverträgen Abrufmengen und -fristen gehandhabt werden, ab welchem Zeitpunkt in der Containerlogistik Standgelder oder Ablöseentgelte entstehen oder ob bei Handelsgeschäften verdeckte Mängel noch nach einer zunächst unauffälligen Eingangskontrolle gerügt werden können.
Sobald eine beteiligte Partei sagt „so läuft das bei uns in der Branche“, steht die Behauptung eines Handelsbrauchs im Raum.
Kommt es dann mangels Einigung zum Prozess, stellt sich der behauptete Handelsbrauch als echte Tatfrage dar, an der sich der ganze Rechtsstreit entscheiden kann. Es steht dann in tatsächlicher Hinsicht im Raum: Gibt es in dem betroffenen Markt tatsächlich eine gefestigte Übung? Welche Unternehmen gehören zu diesem Markt? Und natürlich: Welchen konkreten Inhalt hat diese Übung?
Der nachfolgende Beitrag setzt sich damit auseinander, wie Handelsbräuche in gerichtlichen Verfahren ermittelt werden und was es für die Beteiligten zu beachten gilt.
Was ein Handelsbrauch im Rechtssinn ist – Abgrenzung zur bloßen „Gepflogenheit“
Das deutsche Handelsgesetzbuch kennt Handelsbräuche ausdrücklich. § 346 HGB lautet:
„Unter Kaufleuten ist in Ansehung der Bedeutung und Wirkung von Handlungen und Unterlassungen auf die im Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche Rücksicht zu nehmen.“
Damit ist bereits qua Gesetz geklärt: Handelsbräuche sind keine unverbindlichen „Praxisphänomene“, sondern ein zwingend zu berücksichtigender Faktor, wenn es um die Bedeutung und Wirkung von Handlungen im Handelsverkehr geht. Sie wirken in die Auslegung und Ergänzung von Verträgen hinein und können im Streitfall den Ausschlag geben, wie ein Geschäft rechtlich einzuordnen ist.
Was damit gemeint ist:
Ein Handelsbrauch ist keine Rechtsnorm, sondern eine tatsächliche Übung. Gemeint sind Abläufe, die
- in einem bestimmten Markt über längere Zeit gleichförmig praktiziert werden
- von den beteiligten Kaufleuten gekannt werden
- und unter den Beteiligten als verbindlich gelten.
Es geht also um mehr als reine Zweckmäßigkeit oder Bequemlichkeit. Ein Handelsbrauch liegt nur vor, wenn die maßgeblichen Verkehrskreise davon ausgehen, dass ein Geschäft „so zu laufen hat“ und dass ein Abweichen eine Erklärung erfordert.
Handelsbräuche sind dabei nie grenzenlos. Sie gelten
- sachlich nur für bestimmte Arten von Geschäften
- räumlich nur in bestimmten Regionen oder Märkten
- personell nur für die Kreise, die diesen Markt tatsächlich prägen.
Der Verweis in § 346 HGB knüpft an die allgemeinen Auslegungsregeln der §§ 157, 242 BGB an. Dort ist von „Verkehrssitte“ und „Treu und Glauben“ die Rede. Handelsbräuche sind die spezifische Ausprägung dieser Verkehrssitte im kaufmännischen Verkehr.
Abgrenzung zu bloßer Gepflogenheit
In der Praxis ist die Abgrenzung zu bloßen Gepflogenheiten von großer Bedeutung. Nicht jede regelmäßige Praxis erreicht die Dichte eines Handelsbrauchs. Typische Merkmale einer bloßen Gepflogenheit sind:
- Sie ist bequem, aber nicht zwingend.
- Abweichungen kommen häufig vor, ohne dass dies als Regelverstoß empfunden wird.
- Die Beteiligten würden nicht sagen, dass der andere „gegen die üblichen Handelsregeln“ verstößt.
Demgegenüber erfordert ein Handelsbrauch eine gefestigte Erwartungslage. Die maßgeblichen Verkehrskreise halten die Übung für selbstverständlich. Wer anders verfährt, muss damit rechnen, dass sein Verhalten als ungewöhnlich angesehen und im Streitfall hinterfragt wird.
Diese Abgrenzung entscheidet im Prozess darüber, ob ein behaupteter Handelsbrauch als ernstzunehmender Beweisgegenstand behandelt wird oder ob das Gericht ihn als unverbindliche Praxis einstuft, die für die Entscheidung keine tragende Rolle spielt.
Handelsbrauch und Vertrag
Für Unternehmen besonders wichtig ist das Zusammenspiel von Handelsbrauch und vertraglichen Abreden. Grundsätzlich gilt:
- Der individuell ausgehandelte Vertrag hat stets Vorrang.
- Ein Handelsbrauch wird herangezogen, um Erklärungen auszulegen und Lücken zu schließen.
- Zwingendes Recht bleibt unberührt.
In der Praxis bedeutet das:
Wenn ein Vertrag oder die einbezogenen Allgemeinen Geschäftsbedingungen eine Frage klar regeln, gibt ein Handelsbrauch diese Regelung nicht ohne Weiteres „aus der Hand“. Er kann aber helfen, unklare Begriffe zu konkretisieren und zu zeigen, wie eine Klausel im betreffenden Markt üblicherweise verstanden wird. Fehlt eine Regelung vollständig, kann ein Handelsbrauch die Lücke füllen und faktisch den Vertragsinhalt bestimmen.
Gerade im Streitfall ist daher genau zu prüfen,
- ob überhaupt eine Lücke besteht, in die ein Handelsbrauch hineinwirken kann
- ob der angebliche Handelsbrauch in genau diesem Markt und für diesen Geschäftstyp gilt und
- ob die behauptete Übung die erforderliche Dichte erreicht.
Für die vertragliche Gestaltung folgt daraus: Je klarer ein Vertrag heikle Punkte regelt, desto weniger Raum bleibt für unsichere Handelsbrauchbehauptungen.
Exkurs:
Abweichung vom Handelsbrauch durch AGB
Für die Praxis stellt sich schnell die Frage, ob Allgemeine Geschäftsbedingungen einfach von einem gefestigten Handelsbrauch abweichen dürfen. Grundsätzlich ist das möglich. Handelsbräuche nach § 346 HGB sind kein zwingendes Recht, sondern wirken als Auslegungs- und Ergänzungsmaßstab. Ein klar formulierter Vertrag oder wirksam einbezogene AGB können davon abweichen.
Ganz frei ist man aber nicht. Je gefestigter ein Handelsbrauch im Markt ist, desto stärker prägt er die Erwartung eines marktbeteiligten Vertragspartners. Eine AGB-Klausel, die diese Erwartung stillschweigend in das Gegenteil verkehrt, kann als überraschend im Sinn von § 305c BGB oder als unangemessen im Sinn von § 307 BGB bewertet werden. Das gilt vor allem dann, wenn die Abweichung weder sprachlich klar noch optisch erkennbar herausgestellt ist.
Für die Vertragsgestaltung heißt das: Wer bewusst gegen einen Handelsbrauch steuern möchte, muss dies deutlich tun und sich der Risiken bewusst sein. Für den Streitfall heißt das: Es lohnt sich zu prüfen, ob eine belastende AGB-Regelung überhaupt wirksam ist, wenn im betreffenden Markt ein verfestigter Handelsbrauch besteht.
Prozessuale Einordnung – Handelsbrauch ist Tatfrage
Spätestens im Prozess stellt sich die Frage, wie ein Handelsbrauch prozessual behandelt wird.
Handelsbrauch als Tatfrage
Prozessual wird der Handelsbrauch als Tatsache behandelt. Das Gericht muss bei Entscheidungserheblichkeit feststellen,
- ob es im relevanten Markt überhaupt eine gefestigte Übung gibt,
- welche Unternehmen zu diesem Markt gehören,
- und welchen konkreten Inhalt diese Übung hat.
Diese Feststellung erfolgt nach den allgemeinen Regeln der freien Beweiswürdigung in § 286 ZPO. Das Gericht bildet sich seine Überzeugung auf Grundlage der erhobenen Beweise. Der behauptete Handelsbrauch ist damit keine abstrakte Rechtsfrage, sondern er bildet einen eigenen Tatsachenkomplex, der im Urteil nachvollziehbar abgearbeitet werden muss. Das hat zwei Konsequenzen:
- Handelsbräuche werden vom Tatrichter festgestellt, nicht im Rahmen einer rein rechtlichen Kontrolle.
- Die Qualität der Beweisaufnahme entscheidet über das Ergebnis und dessen Bestand in der Rechtsmittelinstanz.
Folgen für die Beweisaufnahme
Wenn ein Handelsbrauch entscheidungserheblich ist und bestritten wird, ist er grundsätzlich Gegenstand einer geordneten Beweisaufnahme.
In der Praxis ist das zentrale Beweismittel das Sachverständigengutachten, in Wirtschaftssachen häufig in Form eines Handelsbrauchgutachtens der zuständigen Industrie- und Handelskammer. Ergänzend können Urkunden aus dem Marktumfeld – etwa Verbandsbedingungen, Branchenempfehlungen oder typische Musterverträge – als Indizien herangezogen werden. Zeugenaussagen spielen, wenn überhaupt, eher eine untergeordnete Rolle und dürften Relevanz haben, wenn es zum Beispiel um die denkbare Erschütterung eines Handelsbrauchs geht.
Die Einordnung als Tatfrage bedeutet, dass das Gericht nicht aus eigener Rechtsauffassung heraus festlegen darf, was „branchenüblich“ ist. Es muss die tatsächlichen Verhältnisse ermitteln. Wie das konkret geschieht, hängt vom Einzelfall ab. In den wohl meisten wirtschaftlich bedeutsamen Konstellationen führt der Weg des Sachverständigenbeweises zur Einholung eines IHK-Gutachtens (dazu sogleich).
Darlegungs- und Beweislast
Wer sich im Prozess auf einen Handelsbrauch stützt, trägt die Darlegungs- und Beweislast. Das umfasst zwei Ebenen:
- Darlegungslast: Die Partei muss den behaupteten Handelsbrauch so konkret beschreiben, dass er überhaupt zum Gegenstand eines Beweisbeschlusses gemacht werden kann. Dazu gehören Geschäftstyp, Markt, Zeitraum und der genaue Ablauf.
- Beweislast: Die Partei muss die Überzeugung des Gerichts davon ermöglichen, dass die behauptete Übung in den verkehrsbeteiligten Kreisen tatsächlich besteht und als verbindlich angesehen wird.
Pauschale Hinweise auf „branchenüblich“ reichen dafür nicht aus. Ohne konkret eingegrenztes Beweisthema kann das Gericht weder sinnvoll Beweis erheben noch das Ergebnis prüfen.
Gerichtskundigkeit als Ausnahme
In seltenen Fällen kann ein Handelsbrauch als gerichtsbekannt im Sinn von § 291 ZPO behandelt werden. Dann bedarf es keiner Beweisaufnahme. Das setzt aber voraus, dass das Gericht die betreffende Übung aus eigener, verlässlicher Kenntnis beurteilen kann.
In spezialisierten Märkten mit komplexen Vertragsstrukturen ist das realistisch kaum anzunehmen. Gerade in größeren wirtschaftlichen Streitigkeiten wird ein Gericht sich deshalb regelmäßig nicht auf Gerichtskundigkeit stützen, sondern Beweis erheben müssen. Für Unternehmen bedeutet das: Sie sollten nicht darauf vertrauen, dass das Gericht „schon weiß“, wie ein Markt funktioniert, sondern darauf bestehen, dass Handelsbräuche im Wege der Beweiserhebung ermittelt werden.
Abgrenzung von Tatfrage und Rechtsfrage
Die Einordnung als Tatfrage bedeutet nicht, dass der Handelsbrauch vollständig aus dem Bereich der Rechtsanwendung herausfällt. Tatsächlich werden zwei Ebenen getrennt: Zunächst ist festzustellen, ob in einem Markt überhaupt eine bestimmte Übung besteht und wie sie konkret ausgestaltet ist. Das ist Tatsachenfeststellung. Erst im zweiten Schritt entscheidet das Gericht, ob diese Übung die Qualität eines Handelsbrauchs im Sinn von § 346 HGB erreicht und welche Rechtsfolgen sich daraus für Auslegung und Ergänzung des Vertrags ergeben. Diese Qualifikation ist Rechtsanwendung. In der Praxis verschwimmen beide Ebenen häufig, weshalb es sich lohnt, sie sauber auseinanderzuhalten.
Der Weg zur Feststellung eines Handelsbrauchs im Zivilprozess
Im materiellen Recht ist der Handelsbrauch in § 346 HGB gesetzlich verankert.
Im Prozess stellt sich die andere Frage: Wie kommt ein Gericht überhaupt zu der Feststellung, dass eine bestimmte Übung im Markt besteht. Die ZPO kennt kein Sonderverfahren für Handelsbräuche. Sie gibt nur den allgemeinen Rahmen der Beweisaufnahme vor. Wie Gerichte diesen Rahmen füllen, ist in der Praxis uneinheitlich.
Nicht untypisch sind Konstellationen, in denen zunächst ein Sachverständigengutachten zur „Üblichkeit“ bestimmter Abläufe angeordnet wird, ohne den Markt genauer zu definieren. Erst später entsteht im Verfahren zum Beispiel die „Idee“, ein Handelsbrauchgutachten der zuständigen Industrie- und Handelskammer einzuholen. Die Weichenstellungen des weiteren Ablaufs erfolgen dann oft in Abweichung zu den allgemeinen Regeln zur Erhebung des Sachverständigenbeweises, obwohl diese auch auf IHK-Gutachten anzuwenden sind. Im Prozess bedeutet das: Es lohnt sich die Einhaltung der grundsätzlichen zwingenden Regeln der ZPO zu prüfen und Abweichungen zu rügen.
Entscheidungserheblichkeit und Beweisfrag
Am Anfang steht die Frage, ob ein Handelsbrauch für den Rechtsstreit überhaupt entscheidungserheblich ist. Wenn die Antwort ja lautet und der behauptete Handelsbrauch bestritten wird, muss das Gericht klären, was genau aufgeklärt werden soll.
Ideal wäre eine Beweisfrage, die
- den betroffenen Geschäftstyp beschreibt
- das Marktsegment und gegebenenfalls die Region eingrenzt
- den relevanten Zeitraum benennt
- und den behaupteten Ablauf konkret fasst.
In vielen Beschlüssen findet man aber hiervon abweichend unvollständige Formulierungen wie zum Beispiel „zur Üblichkeit bestimmter Zahlungsschritte im Großhandel“. Verkehrskreise, räumlicher Zuschnitt und genaue Ausgestaltung werden offen gelassen. Die eigentliche Marktabgrenzung verschiebt sich damit in die Gutachtenerstellung, ohne dass klar ist, auf welcher Grundlage der Sachverständige oder die Kammer arbeitet.
Beweisbeschluss und ZPO-Rahmen
Formell beginnt der Weg mit einem Beweisbeschluss nach den §§ 355, 358 ZPO. Der Beschluss legt fest, welche Tatsachen aufgeklärt werden sollen und mit welchem Beweismittel. Für Handelsbräuche gibt es keine Sonderregel. Es gelten die allgemeinen Vorschriften, insbesondere zum Sachverständigenbeweis (§§ 402 ff. ZPO) und zur Verfahrensleitung (§ 404a ZPO).
Für Handelsbräuche bedeutet das:
- der Beweisbeschluss ist der Ort, an dem die Tatsachenfrage sauber gefasst werden muss.
- Er sollte erkennen lassen, welcher Markt gemeint ist und auf welchen Geschäftsbereich sich die Übung bezieht.
- Er ist zugleich Anknüpfungspunkt für spätere Rügen, wenn das Verfahren in eine falsche Richtung gelaufen ist.
In der Praxis bleibt der Beweisbeschluss häufig hinter diesem Ideal zurück. Die eigentliche Konkretisierung des Markts erfolgt mündlich oder wird dem Sachverständigen überlassen, ohne dass dies im Beschluss deutlich niedergelegt wird.
Wahl und Einbindung des Beweismittels
Die ZPO privilegiert kein bestimmtes Beweismittel für Handelsbräuche. Zulässig sind grundsätzlich alle gesetzlichen Beweisformen. In Wirtschaftssachen haben sich jedoch zwei Wege herausgebildet:
- Bestellung eines Sachverständigen, der anhand seiner Marktkenntnis und ergänzender Ermittlungen die Übung prüft, oder
- Einholung eines Handelsbrauchgutachtens der Industrie- und Handelskammer, das strukturierte Umfragen bei verkehrsbeteiligten Unternehmen auswertet
Die Auswahl ist bedeutsam: Von ihr hängt ab, ob am Ende eine belastbare Tatsachengrundlage entsteht. Ein einzelner Sachverständiger kann seine Einschätzung nur dann tragfähig begründen, wenn er seinerseits ein hinreichend dichtes Bild des Marktes erhebt. Die IHK stützt sich umgekehrt auf die Rückmeldungen einer Vielzahl von Unternehmen. In beiden Fällen bleibt es bei einem Sachverständigenbeweis, auf den die Vorschriften §§ 402 ff. ZPO einschließlich der Verfahrensleitung nach § 404a ZPO Anwendung finden.
Ansatzpunkte für die Parteiarbeit
Für Unternehmen und ihre Berater ergeben sich entlang dieses Wegs mehrere konkrete Ansatzpunkte:
- In der frühen Phase kann darauf hingewirkt werden, dass die Beweisfrage nicht nur „Üblichkeit“ abstrakt benennt, sondern Markt, Geschäftstyp und Zeitraum erkennbar macht.
- Wenn der Beweisbeschluss zu vage ist, kann eine Ergänzung oder Konkretisierung beantragt werden.
- Sachverständige aktiv vorschlagen: Parteien können geeignete Sachverständige benennen, die den betreffenden Markt tatsächlich kennen. Das erhöht die Chance auf eine fachkundig fundierte Ermittlung der Marktüblichkeit.
- Alternativen prüfen, wenn sich kein geeigneter Sachverständiger finden lässt: Gerade in spezialisierten Märkten kann es schwierig sein, eine natürliche Person zu bestellen, die zugleich unabhängig und hinreichend tief im Markt verankert ist. Spätestens dann sollte gezielt die Möglichkeit eines Handelsbrauchgutachtens der Industrie- und Handelskammer ins Spiel gebracht werden.
- Auf den Charakter des IHK-Gutachtens hinweisen: Wird eine IHK einbezogen, ist klarzustellen, dass auch hier das Sachverständigenrecht der ZPO gilt. Das Gutachten ist kein bloßer informeller Erfahrungsbericht, sondern unterliegt denselben Anforderungen an Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Befragung wie ein anderes Sachverständigengutachten
Wichtig ist:
Es gibt keinen automatischen Standardpfad, der von der ZPO vorgegeben wird. Der Weg zur Feststellung eines Handelsbrauchs entsteht durch eine Reihe einzelner Verfahrensentscheidungen. Wer an diesen Punkten nicht aufpasst, steht später vor einem Gutachten, das den Markt anders abbildet, als er in Wirklichkeit funktioniert – mit allen Konsequenzen für den Ausgang des Verfahrens.
Wie ein IHK-Handelsbrauchgutachten entsteht – Stellung im Verfahren und praktische Abläufe
In Handelsbrauchsachen ist die Beauftragung eines Gutachtens der örtlich zuständigen Industrie- und Handelskammer ein von Gerichten oft gewählter Weg, Marktüblichkeiten zu ermitteln. Zugleich unterscheidet sich ein IHK-Gutachten deutlich vom klassischen Sachverständigengutachten einer Einzelperson. Es basiert nicht auf der persönlichen Fachkunde einer natürlichen Person, sondern auf einer strukturierten Befragung verkehrsbeteiligter Unternehmen und deren Auswertung.
Trotz dieser Besonderheit bleibt die rechtliche Einordnung klar: Auch das Handelsbrauchgutachten einer Industrie- und Handelskammer ist ein Sachverständigenbeweis im Sinn der §§ 402 ff. ZPO. Das gilt insbesondere für
- die Bestellung als Sachverständige,
- die Vorgaben des § 404a ZPO zur Verfahrensleitung,
- die Pflicht zur nachvollziehbaren Begründung,
- und natürlich die Kontrolle durch das Gericht im Rahmen von § 286 ZPO.
Es handelt sich also nicht um eine informelle „Markterkundung“, sondern um ein förmliches Beweismittel, das denselben Anforderungen an Transparenz und Überprüfbarkeit unterliegt wie ein klassisches ZPO-Sachverständigengutachten.
Ermittlungsansatz: Marktumfrage statt Einzelwissen
Der Ermittlungsansatz der IHK unterscheidet sich methodisch vom Vorgehen eines einzelnen Sachverständigen. Im Kern geht es um drei Schritte:
- Bestimmung des relevanten Marktes und der verkehrsbeteiligten Unternehmen.
- Befragung dieser Unternehmen zu konkreten Abläufen.
- Auswertung der Antworten und Verdichtung zu einer Aussage über eine gefestigte Übung.
Ausgangspunkt ist die Beweisfrage des Gerichts. Sie muss so präzise sein, dass die Kammer erkennen kann, welche Geschäfte, welche Marktsegmente und welcher Zeitraum erfasst sein sollen. Je unklarer der Beweisbeschluss, desto größer die Gefahr, dass die Kammer faktisch eigene Annahmen zur Marktabgrenzung trifft, ohne dass dies im Verfahren sichtbar wird.
Auf dieser Grundlage stellt die Kammer eine Liste von Unternehmen zusammen, die den relevanten Markt abbilden sollen. Anschließend werden diese Unternehmen mit einem Fragenkatalog angeschrieben. Inhaltlich geht es um die tatsächliche Handhabung bestimmter Abläufe, nicht um Rechtsmeinungen. Die Antworten bilden die Rohdaten.
Für die Auswertung bilden die verwertbaren Antworten die Grundlage. Auf dieser Basis wird ermittelt, in welchem Umfang die behauptete Praxis tatsächlich angewandt wird. Erst wenn ein deutlicher Schwerpunkt zugunsten einer bestimmten Handhabung erkennbar ist, kann von einer gefestigten Übung gesprochen werden. Das Gutachten muss diesen Weg von der Beweisfrage über die Auswahl der Unternehmen bis zur Auswertung erkennbar machen.
Transparenz- und Kontrollanforderungen nach der ZPO
Weil ein IHK-Gutachten auf einer Umfrage beruht, stellen sich besondere Anforderungen an Transparenz und gerichtliche Kontrolle. Nach der ZPO darf das Gericht seine Überzeugung nicht auf bloße Ergebnisbehauptungen stützen. Es muss nachvollziehen können, wie das Gutachten zustande gekommen ist. Dazu gehört insbesondere:
- Welche Unternehmen wurden gefragt und warum.
- Wie hoch war der Rücklauf.
- Welche Antworten wurden als verwertbar angesehen und auf welcher Grundlage.
- Wie wurde ausgewertet.
- Welche Schwelle wurde zugrunde gelegt, um von einer gefestigten Übung zu sprechen.
Nur wenn diese Punkte offengelegt sind, können Gericht und Parteien prüfen, ob das IHK-Gutachten den Markt tatsächlich abbildet, der im Beweisbeschluss gemeint war. Für die Partei, die sich auf einen Handelsbrauch stützt oder ihn angreifen will, ergeben sich daraus konkrete Ansatzpunkte:
- Wurde der Markt zu weit oder zu eng gezogen.
- Wurden typische Marktteilnehmer nicht einbezogen.
- Sind die Fragen geeignet, den streitigen Ablauf zu erfassen.
- Trägt die Auswertung die gezogene Schlussfolgerung.
Ein IHK-Handelsbrauchgutachten ist kein unantastbarer Weg der Feststellung. Es ist ein Sachverständigenbeweis mit besonderer Methodik, der sich im Rahmen der ZPO bewegen und sich derselben Kontrolle stellen muss wie jedes andere Gutachten auch.
Vor- und Nachteile: IHK-Gutachten oder Einzelsachverständiger?
Für die Parteien dürfte sich regelmäßig die Frage stellen, ob ein in Frage stehender Handelsbrauch besser durch ein IHK-Gutachten oder durch einen „klassischen“ Einzelsachverständigen festgestellt werden sollte. Eine allgemeingültige Antwort gibt es nicht. Es kommt auf Markt, Streitgegenstand und Verfahrenslage an.
Das IHK-Gutachten hat seine Stärke in der Breite. Es beruht auf einer strukturierten Befragung verkehrsbeteiligter Unternehmen und verdichtet deren Antworten zu einem Gesamtbild. Für das Gericht ist das nachvollziehbar: Anzahl und Art der angeschriebenen Unternehmen, Rücklauf, Auswertung. Das verleiht der Feststellung eine Breitenwirkung, die sich insbesondere dann anbietet, wenn es um Märkte mit vielen typischen Akteuren und vergleichsweise homogenen Abläufen geht. Die Kehrseite: Die Methodik orientiert sich an Mehrheitsverhältnissen. Feinere Unterschiede, Sonderkonstellationen oder stark segmentierte Märkte lassen sich nur begrenzt abbilden. Zudem besteht die Gefahr, dass die Auswahl der Unternehmen und die Gestaltung der Fragen entscheidende Vorentscheidungen treffen, ohne dass dies im ersten Zugriff sichtbar wird.
Der Einzelsachverständige arbeitet naturgemäß stärker aus der Tiefe. Er bringt eigene Marktkenntnis ein, wertet Unterlagen wie Verbandsbedingungen, Musterverträge und Brancheninformationen aus und kann gezielt mit ausgewählten Marktteilnehmern sprechen. Das ist ein Vorteil in Nischenmärkten, bei hochspezialisierten Geschäftsmodellen oder dort, wo es weniger um eine breite Standardpraxis als um eine komplexe, technisch geprägte Abwicklung geht. Gleichzeitig steigt die Abhängigkeit von der Person des Sachverständigen. Wenn die Dokumentation seiner Ermittlungen knapp bleibt und nicht erkennen lässt, wie viele und welche Marktquellen tatsächlich einbezogen wurden, ist das Gutachten angreifbar. Die Gefahr, dass „Erfahrungswissen“ und Einzelstimmen überbetont werden, ist größer als bei einer institutionalisierten Umfrage.
Für die Parteistrategie folgen daraus einige Eckpunkte:
- In breiten, relativ homogenen Märkten mit vielen Akteuren spricht vieles für ein IHK-Gutachten, weil die Kammer die Stimmen einer Vielzahl von Unternehmen bündeln kann und Gerichte diese Form der Ermittlung erfahrungsgemäß gern heranziehen.
- In stark spezialisierten, technisch geprägten oder sehr kleinen Märkten kann ein Einzelsachverständiger sinnvoller sein, der fachlich tief drin ist und die Besonderheiten des Segments erläutern kann.
Unabhängig vom gewählten Weg bleibt entscheidend, dass die Methodik offengelegt wird: Welche Quellen wurden genutzt, welche Unternehmen wurden einbezogen, wie wurde ausgewertet. Nur dann lässt sich das Ergebnis im Prozess bewerten und nötigenfalls konkret angreifen.
Fazit -Handelsbrauch im Prozess – oft prozessentscheid, aber nicht feststehend
Handelsbräuche können in wirtschaftlichen Streitigkeiten den Ausschlag geben. Sie sind aber nichts, was „einfach so“ feststeht. Ob es eine gefestigte Übung gibt, in welchem Markt sie gilt und welchen Inhalt sie hat, ist Ergebnis eines Feststellungsverfahrens. Diese Feststellung kann zutreffend sein, sie kann aber auch wegen eines zu groben Marktbegriffs, unklaren Beweisfragen, fehlerhaft ausgewählten Verkehrskreisen oder einer unzureichenden Gutachtenmethode falsch sein.
Im Geschäftsleben ist daher Aufmerksamkeit gefragt, sobald eine Seite sich auf „so läuft das bei uns in der Branche“ beruft oder eine bislang selbstverständliche Praxis plötzlich bestritten wird. Dann stellt sich die nüchterne Frage, ob es sich nur um eine Unternehmensgewohnheit oder um eine tatsächlich verbreitete, als verbindlich angesehene Übung in einem abgrenzbaren Markt handelt. Dazu gehört Klarheit über die eigene Praxis, über vertragliche Regelungen und über erkennbare Branchenstandards.
Kommt es zum Prozess, sollten die dargestellten Punkte von Beginn an berücksichtigt und möglichst gesteuert werden: Einordnung des Handelsbrauchs als Tatfrage, präzise Fassung der Beweisfrage, marktgerechte Abgrenzung der Verkehrskreise sowie Wahl und Kontrolle des Beweismittels, insbesondere eines IHK-Gutachtens. Wer diese Schritte früh im Blick hat, verhindert, dass über einen behaupteten Handelsbrauch auf der Grundlage unklarer Annahmen oder eines unpassenden Gutachtens entschieden wird.
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