Bis 10.000 € vor das Amtsgericht: Warum das schiefgeht
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Die Bundesregierung plant, die Streitwertgrenze für die Zuständigkeit der Amtsgerichte von 5.000 € auf 10.000 € anzuheben – ein Vorhaben mit gegebenenfalls erheblichen Folgen für den effektiven Rechtsschutz.
Meine These
Die Reform verschlechtert Rechtsschutzqualität, produziert mehr Berufungen und verfehlt ihr eigenes Ziel, „Bürgernähe“ herzustellen. Sie spart an der falschen Stelle und kostet am Ende Zeit, Geld und Vertrauen.
Was die Bundesregierung plant – und wie es verkauft wird
Der Zuständigkeitsstreitwert für die amtsgerichtliche Eingangsinstanz soll von 5.000 € auf 10.000 € steigen. Gleichzeitig werden einzelne Materien streitwertunabhängig den Landgerichten zugewiesen, etwa Heilbehandlung, Vergabe, Veröffentlichungen. Der Bund rechnet mit „Einsparungen“ an Anwaltskosten in Millionhöhe.
Begründung (u.a.):
Inflation seit 1993, Erhalt von Amtsgerichtsstandorten, Bürgernähe.
Was übersehen wird
1) Komplexität hat mit 10.000 € wenig zu tun
Viele Verfahren unter 10.000 € sind fachlich anspruchsvoll: Von Fragen des internationalen Prozessrechts über komplexe Gewährleistungskonstellationen hin zu oft komplexen Transport- und CMR-Konstellationen. Das gehört an spezialisierte Kammern, nicht an „bürgernahe“ Amtsgerichte. Die Spezialisierungsbausteine des Entwurfs greifen punktuell, lassen aber zentrale handelsrechtliche Materien außen vor.
2) Mehr Selbstvertretung heißt nicht mehr Gerechtigkeit – Qualität kostet
Am Amtsgericht gilt kein Anwaltszwang. Genau darauf zielt der „Einspar“-Effekt. In der Praxis führt Selbstvertretung zu fehlerhaften Anträgen, fehlerbehafteter Verfahrensführung, Mehrbelastung der Geschäftsstellen und – vor allem – zu mehr Berufungen. Die so „gesparten“ 14,5 Mio. € wandern so in die zweite Instanz. Das BMJ selbst rechnet mit spürbaren Verlagerungen in die Rechtsmittelzüge.
3) Bürgernähe
Ortsnähe hilft vielleicht im Nachbarschaftsrecht. Im Wirtschaftsrecht hilft anwaltliche Vertretung und Qualität.
Was wirklich helfen würde
Aus meiner Sicht würde eher Folgendes helfen:
- Abschied vom Streitwert – Spezialisierung nach Materie
Streitwertunabhängige Konzentration bei spezialisierten Kammern: z.B. Kaufrecht B2B, Transport/CMR, internationale Handelsfälle, IT-Verträge. Das bringt Qualität dorthin, wo sie gebraucht wird. Vorbilder sind die bereits vorgesehenen Spezialisierungen bei Heilbehandlung oder Vergabe.
- Digitale, beschleunigte Verfahren
Echte beschleunigte Verfahren bis z. B. 5.000 €: standardisierte Klage- und Erwiderungsformulare, verpflichtende frühe richterliche Hinweise, enge Fristen, digitale Beweisaufnahme. Das spart Zeit ohne Qualitätsabstriche. - Anwaltszwang in Handelssachen
Streitwertunabhängiger Anwaltszwang in Handelssachen. Wer in einem grenzüberschreitenden Lieferfall streitet, braucht professionelle Prozessführung. Das senkt die Berufungsquote und entlastet die Gerichte genau dort, wo es zählt. - Konzentrationsmodelle
Wirtschaftskammern mit überörtlicher Zuständigkeit. Dies sichert mehr Know-how und Leitentscheidungen. - Bürgernähe digital
Flächendeckend Videoverhandlungen, Bürgernähe entsteht so auf dem Bildschirm

Die Anhebung auf 10.000 € verlagert Verfahren an die Amtsgerichte – zu Lasten der Qualität.
Der Entwurf verkauft die Reform als „Bürgernähe“ und Umsetzung der UN-Agenda 2030 / Ziel 16: „Zugang zur Justiz, leistungsfähige Institutionen“. In Wahrheit wird hier ein strukturelles Problem – mangelnde Spezialisierung, schleppende Digitalisierung sachfremd kaschiert.
Wer wirklich eine leistungsfähige, bürgernahe Ziviljustiz will, setzt auf Spezialisierung und nicht zuletzt auch auf für die Gerichte verpflichtende Digitalisierung.
Über RA Daniel Meier-Greve
Daniel Meier-Greve ist Rechtsanwalt mit Kanzleisitz in Hamburg. Er berät und vertritt Mandanten in komplexen wirtschaftsrechtlichen Auseinandersetzungen – außergerichtlich und vor Gericht. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Vertragsgestaltung und der Prozessführung.
Beides betrachtet er nicht getrennt: Wer Verträge gestaltet, muss den Streit mitdenken – und wer Prozesse führt, sollte verstehen, wie Verträge zustande kommen. Dieser Perspektivwechsel prägt seine juristische Arbeit – und ist Grundlage seiner Beratung.
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Legal+ steht für juristische Beratung mit strategischem Blick: Gestaltung und Streit gehören zusammen. Ein Vertrag ist kein Ziel, sondern ein Mittel – zur Risikosteuerung, zum Interessenausgleich, zur Vorbereitung auf den Streitfall. Legal+ denkt Verträge vom Konflikt her – und führt Verfahren mit dem Wissen, wie sie entstanden sind.

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