Stuttgart 21 & Sprechklausel – Wenn Verträge keine Pflichten schaffen
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Manchmal entscheidet ein einziger Satz über Milliarden. Beim Projekt Stuttgart 21 ist genau das passiert. Im Zentrum der juristischen Auseinandersetzung stand eine kurze Vertragsregelung – die sogenannte „Sprechklausel“. Sie sollte im Fall von Mehrkosten für Gesprächsbereitschaft sorgen, wurde von der Deutschen Bahn jedoch als Grundlage für zusätzliche Zahlungen verstanden. Vor Gericht hielt diese Argumentation nicht stand. Die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Stuttgart und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg sind ein Musterbeispiel dafür, wie Verträge auszulegen sind – und was geschieht, wenn sie zu vage bleiben.
Teil 1: Das Urteil zu Stuttgart 21 als Lehrbuchfall der Vertragsauslegung
Mit Urteil vom 7. Mai 2024 (Az. 13 K 9542/16) hat das Verwaltungsgericht Stuttgart die Klage der Deutschen Bahn auf Kostenbeteiligung der Projektpartner am Projekt Stuttgart 21 abgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat mit Beschluss vom 1. August 2025 (Az. 14 S 1737/24) den Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt. Das Urteil ist damit rechtskräftig. Der Streit betrifft einen öffentlich-rechtlichen Finanzierungsvertrag mit einem Volumen im zweistelligen Milliardenbereich. Im Zentrum der rechtlichen Auseinandersetzung steht eine einzige Klausel: die sogenannte „Sprechklausel“.
Diese lautet:
„Im Falle weiterer Kostensteigerungen nehmen die EIU und das Land Gespräche auf.“
Die Bahn hatte geltend gemacht, aus dieser Regelung lasse sich eine Pflicht zur nachträglichen Erhöhung der Finanzierungsbeiträge ableiten. Die Gerichte haben das klar verneint.
Die Entscheidung des VG Stuttgart und ihre ausdrückliche Bestätigung durch den VGH Baden-Württemberg können als exemplarischer Fall für die systematische Auslegung von Verträgen gelten. Sie zeigen, wie Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und Zweckbestimmung zusammenspielen – und welche Konsequenzen unklare oder strategisch offen gehaltene Regelungen haben können.
1. Wortlaut der Sprechklausel
Die Klausel regelt im Fall weiterer Kostenüberschreitungen lediglich die Pflicht zur Aufnahme von Gesprächen. Aus dem bloßen Gebot, Gespräche zu führen, lässt sich kein materieller Anspruch auf Kostenbeteiligung ableiten. Der Begriff „Gespräche“ ist rechtstechnisch zu unspezifisch, um rechtliche Verpflichtungen in Form zusätzlicher Zahlungen zu begründen.
2. Systematik des Vertrags
Die Sprechklausel folgt auf eine abgestufte und bezifferte Finanzierungsregelung. Diese Struktur spricht dafür, dass mit dem letzten bezifferten Beitrag eine materielle Pflicht endet und durch eine verfahrensrechtliche Klausel ersetzt wird, die keine Rechtsfolgen außerhalb der Kommunikationspflicht entfaltet. Das Fehlen eines Verteilungsschlüssels zeigt, dass bewusst keine weitere Leistungspflicht entstehen sollte.
3. Historische Auslegung
Die Klausel entstand nach mehreren Entwurfsfassungen, in denen – teils auf Initiative der Bahn – eine ausdrückliche Abkehr von automatischen Nachschüssen vorgesehen war. Die Entwicklung zeigt: Die Parteien wollten keine verbindliche Regelung weiterer Beiträge.
4. Teleologische Auslegung
Zweck der Sprechklausel war es nicht, eine Pflicht zur Fortführung des Projekts oder zur Mitfinanzierung zu begründen, sondern allenfalls eine Gesprächsbasis für einvernehmliche Lösungen zu schaffen. Eine Pflicht zur Einigung oder zur Zahlung lässt sich daraus nicht ableiten.
5. Keine ergänzende Vertragsauslegung
Es gibt keine Vertragslücke, die durch Ergänzung zu schließen wäre. Die klar gestufte Finanzierung bis zu einem Maximalbetrag und der Verzicht auf automatische Fortschreibung waren Ausdruck bewusster Risikobegrenzung.
6. Keine Störung der Geschäftsgrundlage
Auch der Grundsatz der Störung der Geschäftsgrundlage half der Bahn nicht. Die Parteien hatten ausdrücklich vorgesehen, dass bei Mehrkosten nur gesprochen, nicht automatisch gezahlt wird.
7. Mein Fazit für die Vertragsgestaltungspraxis
Die Entscheidung zeigt: Wer sich im Vertrag auf „Gespräche“ statt auf klare Verpflichtungen verlässt, steht im Ernstfall mit leeren Händen da.
Über RA Daniel Meier-Greve
Daniel Meier-Greve ist Rechtsanwalt mit Kanzleisitz in Hamburg. Er berät und vertritt Mandanten in komplexen wirtschaftsrechtlichen Auseinandersetzungen – außergerichtlich und vor Gericht. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Vertragsgestaltung und der Prozessführung.
Beides betrachtet er nicht getrennt: Wer Verträge gestaltet, muss den Streit mitdenken – und wer Prozesse führt, sollte verstehen, wie Verträge zustande kommen. Dieser Perspektivwechsel prägt seine juristische Arbeit – und ist Grundlage seiner Beratung.
Über Legal+
Legal+ steht für juristische Beratung mit strategischem Blick: Gestaltung und Streit gehören zusammen. Ein Vertrag ist kein Ziel, sondern ein Mittel – zur Risikosteuerung, zum Interessenausgleich, zur Vorbereitung auf den Streitfall. Legal+ denkt Verträge vom Konflikt her – und führt Verfahren mit dem Wissen, wie sie entstanden sind.

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