Commercial Courts in Deutschland
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Deutschland hat mit dem Justizstandort-Stärkungsgesetz neue Spruchkörper für große Wirtschaftssachen geschaffen: Commercial Courts bei den Oberlandesgerichten und vorgelagert Commercial Chambers bei den Landgerichten. Die neuen Spruchkörper sind noch jung. Erfahrungswerte entstehen erst. Gesetzlich gilt: Unternehmen können Streitigkeiten auf Wunsch direkt vor einem Senat am Oberlandesgericht verhandeln. Die Verfahrensführung ist durchgehend auf Englisch möglich. Im Anschluss ist der Weg zum Bundesgerichtshof ohne Zulassung geöffnet.
Im Folgenden ordne ich Commercial Courts und Commercial Chambers ein und zeige, in welchen Konstellationen diese neue Schiene die bessere Alternative gegenüber klassischen staatlichen Verfahren und privaten Schiedsverfahren sein kann.
Was ist neu – Zentrale Unterschiede zum „normalen“ Verfahren
Die Reform erlaubt den Ländern, „Commercial Courts“ beim Oberlandesgericht und „Commercial Chambers“ beim Landgericht einzurichten (§ 119b GVG). Der Commercial Court verhandelt erstinstanzlich genau definierte Wirtschaftszivilsachen, die das jeweilige Land in seiner Zuständigkeitsverordnung festlegt und an eine Streitwertschwelle knüpft. Parteien können diesen Weg vertraglich wählen; er entsteht auch, wenn der Beklagte sich rügelos einlässt (§ 39 ZPO). Vor dem Commercial Court ist die vollständige Verfahrensführung auf Englisch möglich(§ 184a GVG, §§ 606–608 ZPO) . Gegen dessen Urteile ist die Revision zum Bundesgerichtshof eröffnet.
Die Commercial Chambers sind die parallele, spezialisierte Eingangsebene am Landgericht für dieselben Sachgebiete unterhalb der landesrechtlichen Streitwertschwelle. Auch dort kann das Verfahren vollständig auf Englisch geführt werden. Der Instanzenzug bleibt hier klassisch: Berufung zum Oberlandesgericht, Revision nur bei Zulassung. Welche Streitarten jeweils erfasst sind und wo die Streitwertschwelle liegt, regelt jedes Land gesondert; die Praxis unterscheidet sich daher je Standort.
Das Verfahren in der Praxis
Ein Verfahren vor den Commercial Courts läuft wie ein normales Zivilverfahren vor staatlichen Gerichten, aber mit einigen klaren Besonderheiten. Erste Instanz ist nicht das Landgericht, sondern ein Senat am Oberlandesgericht. Es entscheiden drei Berufsrichter. Das hebt die juristische Tiefe von Anfang an.
Organisationstermin
Zu Beginn gibt es einen frühen Termin zur Verfahrensorganisation (sog. „Organisationstermin“). Dort werden Streitpunkte geordnet, Fristen gesetzt und die Beweisaufnahme geplant. Diese Vorgaben gelten verbindlich (§ 612 ZPO i. V. m. §§ 224, 296 ZPO). Wer später mit neuen Tatsachen oder Beweismitteln kommt, trägt ein erhöhtes Risiko der Zurückweisung. Konsequenz für Unternehmen: Sachverhalt, Unterlagen und Zeugen müssen vor diesem Termin vollständig vorbereitet sein. Wer hier sauber arbeitet, vermeidet Folgeschäden in der nächsten Instanz.
Englische Verfahrensführung
Das Verfahren kann vollständig auf Englisch geführt werden. Schriftsätze, Verhandlung, Entscheidung. Das ist sinnvoll, wenn Verträge, E-Mails und technische Dokumente ohnehin auf Englisch vorliegen oder internationale Zeugen beteiligt sind. Wo Deutsch nötig ist, ordnet das Gericht gezielt Übersetzungen an. Ziel ist ein durchgängiger Ablauf ohne Sprachbruch.
Wortgetreues Protokoll
Im klassischen Zivilprozess wird nur zusammenfassend protokolliert. Formulierungen stammen vom Gericht; wörtliche Aussagen erscheinen selten. Das ist für die spätere Überprüfung unbefriedigend. Vor den Commercial Courts und den Commercial Chambers kann auf übereinstimmenden Antrag der Parteien wortgetreu protokolliert werden (§ 613 ZPO). Aussagen und Vorhalte werden vollständig erfasst. Für die Praxis ist das ein echter Fortschritt: Missverständnisse lassen sich vermeiden, Beweisaufnahmen sind nachterminlich nachvollziehbar, und Rechtsmittel stützen sich auf ein präzises Tatsachengerüst statt auf knappe Paraphrasen. Meine klare Empfehlung: das Wortprotokoll stets anstreben, früh ankündigen, im Organisationstermin fixieren und im Termin ausdrücklich beantragen. Der Mehraufwand im Ablauf ist einkalkuliert – die Nutzen des Protokolls rechtfertigt ihn.
Commercial Courts versus Commercial Chambers
Neben dem Commercial Court gibt es die Commercial Chambers. Sie sind die spezialisierte Eingangsebene am Landgericht für dieselben wirtschaftsrechtlichen Streitarten, wenn die landesrechtlich festgelegte Streitwertschwelle des Commercial Court nicht erreicht ist. Auch vor der Commercial Chamber gibt es den frühen Organisationstermin mit verbindlichen Fristen. Auch dort kann das Verfahren vollständig auf Englisch geführt und auf Wunsch wortgetreu protokolliert werden. Der wesentliche Unterschied liegt im Instanzenweg.
Rechtsmittelweg
Der Rechtsmittelweg beim Commercial Court ist kürzer und klarer. Das Oberlandesgericht entscheidet als erste Instanz. Gegen dieses Urteil ist unmittelbar die Revision zum Bundesgerichtshof eröffnet. Anders als beim „normalen“ ZPO-Verfahren ist keine Zulassung der Revision erforderlich (§ 614 ZPO). In der Revision werden keine neuen Tatsachen ermittelt. Der Bundesgerichtshof prüft, ob das Recht richtig angewendet und das Verfahren korrekt geführt wurde. Der Gesetzgeber will mit diesem zulassungsfreien Weg zum BGH Leitentscheidungen auf höchster Ebene erleichtern, eine schnelle Klärung von Grundfragen des Wirtschaftsrechts und eine verlässliche Vereinheitlichung der Rechtsprechung. Zugleich soll der staatliche Weg gegenüber der Privatjustiz (d. h. Schiedsverfahren) an Attraktivität gewinnen, weil Rechtsfortbildung möglich bleibt.
Beim Commercial-Chamber-Verfahren bleibt demgegenüber der klassische Instanzenweg bestehen. Aus der Entscheidung des Landgerichts geht es in die Berufung zum Oberlandesgericht. Neues Vorbringen ist dort nur ausnahmsweise zulässig. Was im Organisationstermin festgelegt und später versäumt wurde, lässt sich in der Berufung nur schwerer „reparieren“ als beim normalen ZPO-Verfahren ohne Organisationstermin. Eine Revision zum Bundesgerichtshof kommt erst nach der Berufungsentscheidung in Betracht und bedarf wie sonst auch der Zulassung.
Unterschiede zum Schiedsverfahren
Ein Schiedsverfahren ist privat organisiert. Die Parteien bestimmen die Schiedsrichter und viele Abläufe vorab vertraglich. Der Schiedsspruch ist in der Regel endgültig. Eine umfassende Rechtskontrolle findet nicht statt. Dafür ist die weltweite Vollstreckbarkeit außerhalb der Europäischen Union erprobt. Die Kehrseite sind zusätzliche Kosten für Tribunal und Institution, die neben den Anwaltskosten anfallen und schwer kalkulierbar sein können.
Die Commercial Courts sind staatlich. Der gesamte Tatsachenstoff wird in einer Instanz am Oberlandesgericht bearbeitet. Anschließend ist die Revision zum Bundesgerichtshof ohne Zulassung eröffnet. Das schafft eine rechtliche Kontrolle auf höchster Ebene. Die Verfahrensführung kann vollständig auf Englisch erfolgen. In der Revision entscheidet der BGH jedoch, ob er auf Englisch fortführt oder auf Deutsch umstellt. Dieser mögliche Sprachwechsel wird zu Recht kritisch gesehen und sollte bei der Vorbereitung einkalkuliert werden. Vertraulichkeit ist nicht der Ausgangspunkt. Schutz entsteht nur auf Antrag und muss konkret begründet werden.
Fazit
Eine Bilanz ist heute noch nicht seriös. Der Weg zu den Commercial Courts ist dafür zu neu. Verlässliche Kennzahlen fehlen.
Gleichwohl lässt sich ein Ausblick wagen: Wer zügige Ergebnisse in einem straff geführten staatlichen Verfahren wünscht, wer englischsprachige Unterlagen ohne Übersetzungsbrüche nutzen möchte und wer die hohen Zusatzkosten eines Schiedsverfahrens scheut, findet künftig in den Commercial Courts einen potentiell passenden Weg. Besonders hervorzuheben ist das wortgetreue Protokoll: Es schafft eine präzise Tatsachenbasis – in streitigen Beweisaufnahmen oft der Unterschied zwischen „gefühlter“ und überprüfbarer Wahrheit. Wer dagegen primär außerhalb der Europäischen Union vollstrecken muss oder maximale Vertraulichkeit ohne Rechtsmittel sucht, bleibt mit dem Schiedsverfahren auf der sicheren Seite.
Für Ihre Praxis heißt das:
Wenn die neue staatliche Schiene in Betracht kommt, sollten passende Gerichtsstandsklauseln rechtzeitig vorbereitet werden, damit der Weg zum Commercial Court verbindlich wird. Ohne Vereinbarung hängt die Zuständigkeit davon ab, ob die Gegenseite sich rügelos einlässt. Das ist planungsunsicher. Wer diese Option offenhalten will, legt sie besser vertraglich an.
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